Kulturelle Sensibilität ist eine tolle Sache. Völlig zu Recht wird immer wieder gefordert, interkulturelle Kompetenz gehöre in einer Einwanderungsgesellschaft zum guten Ton.
Aber die Rücksichtnahme auf (echte oder vermeintliche) kulturelle Besonderheiten kann sich auch als eine besonders subtile Form von Diskriminierung erweisen.
Dies hier ist so ein Fall: Eine Frankfurter Richterin hat einer 26jährigen Deutschen marokkanischer Abstammung die vorzeitige Scheidung von ihrem Mann – ebenfalls marrokkanischer Herkunft – verweigert. Begründung: „Die Ausübung des Züchtigungsrechts begründet keine unzumutbare Härte gemäß § 1565 BGB.“ Die Richterin erläutert ihre eigenwillige Ansicht damit, dass beide Beteiligten aus dem „marokkanischen Kulturkreis“ stammen, in dem es nicht unüblich sei, dass der Mann ein Züchtigungsrecht gegenüber der Frau ausübe.
Die Richterin argumentiert mit dem Koran, in dem das Züchtigungsrecht des Mannes begründet sei (Sure 4, 34). Das ist zwar sachlich richtig, aber für ein Verfahren auf deutschem Boden und nach deutschem Recht total irrelevant.
Das ist alles so haarsträubend, dass man gar nicht weiss, wo anfangen.
Erstens: Die Klägerin ist Deutsche (hier geboren und aufgewachsen), eventuelle Bräuche im „marokkanischen Kulturkreis“ ihrer Eltern oder Verwandten sind für ihren Fall nicht maßgeblich. Ihr Mann hat sie schwer misshandelt und bedroht, so dass selbst die betreffende Richterin ein Näherungsverbot gegen ihn verhängte.
Zweitens: Wäre sie nicht Deutsche, hätte sie trotzdem ein Recht auf den Schutz durch deutsche Gesetze. Warum sonst hätten Feministinnen so lange für die Aufnahme sexueller Verfolgung als Asylgrund gekämpft? „Geschlechtsspezifische Verfolgung“ ist im Zuwanderungsgesetz als besonderer Schutzgrund benannt.
Drittens: Die Kulturkreis-Argumentation der Richterin, die sich so wissend aufspreizt, ist in Wahrheit ein Zeichen von Ignoranz. Sie läuft im Grunde auf die Herablassung heraus, die früher gegenüber unseren hiesigen Unterschichten in Sprüchen wie „Pack schlägt sich, Pack verträgt sich“ zum Ausdruck kam.
Marokko hat vor Jahren nämlich das Familienrecht auf eine für die islamische Welt umstürzende Weise verändert (langer Bericht von Michael Thumann hier). Das Heiratsalter wurde auf 18 heraufgesetzt. Gewalt in der Ehe ist strafbar. Frauen haben in Marokko ein Recht auf Scheidung, auf das Sorgerecht für die Kinder und auf Unterhalt.
Das tut für den Fall, wie gesagt, eigentlich nichts zur Sache, weil unsere Rechtsgrundlage das BGB und nicht eine hergebrachte Auslegung der Scharia ist, die selbst Marokko hinter sich zu lassen bemüht ist. Es zeigt aber, wes Geistes die Kulturrelativisten sind, die für jeden Rückstand immer ein kulturelles Argument finden, wie in diesem Fall die Frankfurter Richterin.
Sie machen, ob sie es wissen oder nicht, mit den Fundamentalisten gemeinsame Sache. Sie sind genauso schlimme Feinde jeden humanen Fortschritts wie jene, weil auch sie sich Kulturen als statische Blöcke vorstellen, an die man nicht rühren darf.