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Der Mord an Christen in der Türkei entfacht eine Debatte um Islam und Religionsfreiheit

 

Die Alevitische Gemeinde Deutschlands hat ein ungewöhnlich scharfes und klares Kommuniqué zu den Morden von Malatya herausgegeben.
Die nachfolgend dokumentierte Stellungnahme steht für mehrere Entwicklungen:
– die Aleviten setzen sich von der deutschen Diaspora aus zunehmend selbstbewusst gegen Diskriminierung und Missionierung durch den türkisch-sunnitsichen Staatsislam zur Wehr
– sie beharren selbstbewusster denn je darauf, als eigenständige Stimme innerhalb der türkisch-islamischen Kultur gehört zu werden (so auch in der Islamkonferenz, in der sie mit den islamischen Verbänden zusammen gehört werden)
– sie befinden sich in einem Selbstfindungsprozess, der sie immer stärker aus der Zwangssynthese mit den sunnitischen Muslimen hinaustreibt; sie streben die Anerkennung als eigenständige Religionsgemeinschaft an (nicht etwa als „liberale Muslime“, wie es oft irreführender Weise heisst)
Das wirft interessante Fragen für die Islam Konferenz auf, wenn man bedenkt, dass mindestens 20 Prozent der Muslime in Deutschland de facto Aleviten sind.
Die Aleviten sind nicht Mitglied im Koordinationsrat der Muslime. Doch die Anhänger ihrer anatolisch-synkretistischen Religion werden üblicher Weise als Muslime betrachtet. Damit verlängert man ein Unrecht, das durch die Zwangsassimilation entstanden ist. Die Aleviten wollen dies nicht mehr hinnehmen. Wie der türkische Staat mit dem neuen Selbstbewusstsein umgeht, ist eine Probe auf seine Europatauglichkeit.
Und wie die sunnitische Mehrheit der hiesigen Muslime mit den Aleviten umgehen wird, ist eine Probe auf ihre Berechtigung, als Religionsgemeinschaft nach dem Grundgesetz anerkannt zu werden.

Hier die Stellungnahme im Wortlaut:

„Wir verurteilen den brutalen Mord in Malatya auf das schärfste
Die Alevitische Gemeinde Deutschland e.V. verurteilt den brutalen Mord an drei Mitarbeitern eines Bibel-Verlags im Südosten der Türkei auf das schärfste. Wir sind zutiefst betroffen über dieses abscheuliche Verbrechen.
Wir wünschen den Angehörigen der Opfer unser herzlichstes Beileid und fordern die Türkische Regierung und ihre Sicherheitsbehörden auf so schnell, wie möglich die Täter ausfindig zu machen und die Hintergründe der Tat auf zu klären.
Trotz der Tatsache, dass der alevitische Glaube keine Missionierung kennt, respektieren wir den Glaubenswechsel und Missionierung, also das Werben für den eigenen Glauben, als Teil der Glaubensfreiheit für alle Glaubensgemeinschaften gleichermaßen und als unveräußerlicher Teil der Menschenrechte.
Die türkische Regierung, andere offizielle Vertreter und die Medien des mehrheitlich muslimischen Landes haben wiederholt die Tätigkeit christlicher Missionswerke kritisiert und verfolgt, obwohl der türkische Staat mit dem Präsidium für Religionsangelegenheiten (DIYANET/ DITIB in Europa) selbst der größte Missionar im Lande ist. Diese Doppelmoral des türkischen Staates ist unerträglich und eines EU-Beitrittskandidaten unwürdig.
Neben den Christen leben in der Türkei auch viele andere Religionsgemeinschaften, die vom Staat und der Bevölkerung diskriminiert werden.
In der Türkei bilden die Aleviten mit 20 Millionen an der Zahl die zweitgrößte Religionsgemeinschaft nach den Sunniten. Bis heute sind z.B. die Aleviten nicht als eine eigenständige Religionsgemeinschaft anerkannt. Wir werden gegen unseren Willen offiziell den sunnitischen Muslimen zugerechnet. Die Kult- und Gebetsstätten der Aleviten, die Cemhäuser, werden bis heute nicht als solche anerkannt. Im Gegenteil werden Moscheen in alevitischen Dörfern und Siedlungsgebieten gebaut, obwohl die Aleviten nicht in die Moschee gehen. Die alevitischen Kinder werden an staatlichen Schulen durch islamischen Pflichtreligionsunterricht zwang sunnitisiert.
Viele türkische Nationalisten und Islamisten sehen nicht nur in christlichen Missionaren Feinde des Landes, die angeblich deren politische und religiöse Institutionen untergraben, sondern in allem was nicht islamisch und türkisch ist.
Daran ist die jahrzehntelange offizielle Ideologie, die sog. „Türkisch Islamische Synthese“, des türkischen Staates verantwortlich.

Dieses Verbrechen ist nicht der Anfang, sondern der letzte Glied einer Kette von Verbrechen an anders Denkenden und Gläubigen in der Türkei.
Im Februar vergangenen Jahres wurde ein katholischer Priester in der Stadt Trabzon am Schwarzen Meer von einem Jugendlichen erschossen, im gleichen Jahr wurden zwei weitere Priester überfallen.
Der aus Malatya stammende armenisch-türkische Publizist Hrant Dink war Anfang des Jahres von einem jungen Ultranationalisten ermordet worden.
Und vor letzte Woche erst wurde der Lehrer Hüseyin Cebe an einer Grundschule durch einen anderen nationalistischen Lehrer erschossen, weil er Alevit und Kurde war. Das wurde jedoch von der türkischen Presse und den staatlichen Stellen vertuscht.
Zur Religionsfreiheit gehören Glaubensfreiheit, Bekenntnisfreiheit und Kultusfreiheit als Recht auf ungestörte Religionsausübung. Das verfassungsrechtliche Gegenstück der Religionsfreiheit ist die Pflicht des Staates zu religiöser und weltanschaulicher Neutralität. Diese Religiöse Neutralität des Staates ist in der Türkei unzweifelhaft nicht gegeben.
Wir fordern die deutsche Öffentlichkeit und die Politik auf endlich Kenntnis zunehmen von der Doppelmoral der Islamisten sowohl in der Türkei auch als in Deutschland.
Über diese Situation und die Diskriminierung der nicht-muslimischen Religionsgemeinschaften in der Türkei sind die türkisch-sunnitischen Muslime und ihre Verbände in Deutschland ausreichend informiert. Doch wenn es darum geht, die gleiche Religionsfreiheit, die sie in Deutschland genieβen wollen, auch für Aleviten und andere Glaubensgemeinschaften in der Türkei einzufordern und diese offen zu unterstützen, schweigen diese Organisationen und ihre Mitglieder.
Die türkischstämmigen Muslime und ihre Organisationen in Deutschland tragen zwar nicht maβgeblich die Verantwortung dafür, was in der Türkei auf politischer Ebene schief läuft, aber durch ihre klare Unterstützung der offiziellen türkischen Position machen sie sich wiederum in Deutschland mit ihren eigenen Forderungen nach ‘’Toleranz’’ und ‘’Dialog der Kulturen’’ unglaubwürdig.
Wir treten für die Meinungs- und Religionsfreiheit von allen Menschen und zwar überall ein.

Köln, den 19.04.2007

Alevitische Gemeinde Deutschland“