Ayaan Hirsi Ali sieht die Aufgabe der Europäer darin, den Türken gegen die Gefahr der Islamisierung beizustehen, die ihnen durch die AKP-Regierung drohe. In einem für meinen Geschmack hoch merkwürdigen Stück rät sie am Ende gar dazu, das türkische Militär und die (ihm hörige) Justiz gegen die gewählte Regierung zu stützen. Und das ganze wird auch noch als „liberale“ Position verkauft.
Das am meisten irritierende Zitat:
Naive but well-meaning European leaders were manipulated by the ruling Islamists from the onset into saying that Turkey’s army should be placed under civil control like all armies in the EU member states.
Wenn es gegen die „Islamisten“ geht, dann ist eine Militärdiktatur ganz recht? Kein Wort über die Folter in den Gefängnissen, die himmelschreiende Einschränkung der Meinungsfreiheit, die Unterdrückung der Kurden.
Ayaan Hirsi Ali – Foto: American Enterprise Institute
Ayaan Hirsi Ali nennt zwar die Vermischung von Islam und Nationalismus als Gefahr für die Türkei, aber sie unterschlägt, dass es eben die Generäle waren, die damit im Rahmen der „türkisch-islamischen Synthese“ (Türk-Islam-Sentezi) zu spielen begonnen haben, um der Türkei inneren Zusammenhalt zu geben. Diese Porblematik kommt direkt aus dem Atatürkismus, in dem Ayaan Hirsi Ali die Lösung der Probleme sieht. Sie ruft die türkischen „Liberalen“ auf, sich zu organisieren. Wer sind diese Liberalen? Wie viele sind sie? Und werden sie ohne die Religiösen auskommen, ohne die es die gesamten Fortschritte der letzten Jahre in Fragen der Menschen- und Bürgerrechte nicht gegeben hätte?
Eine echte türkische Zivilgesellschaft ohne Platz für die Religion kann es nicht geben. Hirsi Ali sollte das eigentlich in Amerika gelernt haben. Ayaan Hirsi Ali ist in Gefahr, sich mit solchen kurzsichtigen Stellungnahmen, die ihren Lebenskonflikt auf alle Weltlagen projizieren, selbst zu diskreditieren.
Zur Debatte möchte ich hier im Gegenzug folgenden Ansatz von Forschern der ESI (European Stability Initiative) stellen, die den AKP-Islamismus als „Islamischen Calvinismus“ beschreiben, als eine Versöhnung von anatolischem Konservatismus, Kapitalismus und Moderne. Zitat aus der lesenswerten Studie:
Die AKP-Regierung beschreibt ihre politische Philosophie als ‚demokratischen Konservatismus’.
Premierminister Erdogan erklärt das Konzept folgendermaßen:
„Einen bedeutenden Teil der türkischen Gesellschaft verlangt es nach einem Konzept der Moderne, das die Tradition nicht verwirft, nach einem umfassenden Glauben, der das Lokale akzeptiert, nach einem Verständnis des Rationalismus’, das den spirituellen Sinn des Lebens nicht außer Acht lässt und nach einer Entscheidung für den Wandel, die nicht fundamentalistisch ist. Das Konzept der konservativen Demokratie ist in der Tat eine Antwort auf das Verlangen des türkischen Volkes.“
Viele Ziele des demokratischen Konservatismus’ erinnern an Parteien des politischen Zentrums in Europa. Er verteidigt volkswirtschaftliche Stabilität und fiskalische Verantwortlichkeit. Er ist wirtschaftlich aufgeschlossen und favorisiert persönliche Wohlfahrt und privates Vereinsleben. Er unterstützt die Stärkung der Kräfte und Ressourcen lokaler Selbstverwaltung, aus der viele seiner Schlüsselpersonen stammen und glaubt an das Potential einer Entwicklung von unten. Er ist sozial konservativ, jedoch pragmatisch in vielen der Streitfragen, die die türkische Gesellschaft weiterhin entzweien. Er ist außerdem proeuropäisch und hat sich in seinem Bestreben, Hindernisse auf dem Weg zum EUBeitrittsprozess zu beseitigen, einer Reihe politischer Tabus angenommen.