Karsten Fischer schreibt im Merkur:
„Dekadenz« könnte den nachhaltigsten Exportschlager des Abendlandes ausmachen, mit dem ihm der Sieg im Kampf der Kultur(kritik)en sicher wäre.“
Fischer plädiert dafür, dass der Westen den Dekadenzvorwurf der Fundamentalisten annehmen und umdrehen muss: Unsere so genannte Dekadenz ist unsere Stärke.
Karsten Fischer Foto: Privat
Zitat aus dem lesenswerten Essay:
„Der Sinn der Dekadenzexportstrategie bemißt sich vielmehr nach dem Anwurf Sayyid Qutbs, die freie Welt führe ihren Kampf häufiger mit Zungen, Stiften und Wohltätigkeitsorganisationen als mit Waffen. Genau diesen Kampf um kulturelle Sublimierung muß die westliche Welt führen und gewinnen. Als Ergebnis dieser besonderen Form »auswärtiger Kulturpolitik« in der Weltgesellschaft wäre dann mit John Lennons Imagine anzuzielen, daß auch außerhalb der westlichen Welt die Maxime individuellen Glücksstrebens lautet: »nothing to kill or die for«. Wie jeder erfolgreiche Export beginnt indessen auch derjenige westlicher Dekadenz mit heimischen Voraussetzungen. Denn was die derzeitige Misere des Abendlands ausmacht, ist ihr Changieren zwischen der Scylla eines reaktionären Einstimmens in okzidentalistische Dekadenzvorwürfe und der Charybdis eines politisch korrekten relativistischen Multikulturalismus. Die richtige Antwort auf diese beiden entgegengesetzten Formen kleinmütiger Selbstverleugnung ist das entschiedene Eintreten für eine reflektierte Dekadenz, wie es einem konventionellen Begriffsverständnis nur als Paradoxie erscheinen kann.
Ist das dann sinnvollerweise überhaupt noch Dekadenz zu nennen? In der politischen Semantik hat Begriffsrealismus keinen Sinn, und so reicht es zur Bejahung dieser Frage, daß die Feinde von Freiheit und individuellem Glücksstreben den Dekadenztopos wählen. Rhetorische Auseinandersetzungen lassen sich nicht durch defensive Zurückweisung von Etikettierungen gewinnen, sondern nur durch die offensive Erlangung der Deutungshoheit über Begriffe. Gegen Verleumdung gibt es kein anderes Mittel, erst recht nicht interkulturell, denn hierfür gilt eine Einsicht der römischen Dekadenzexperten: »semper aliquid haeret« – es bleibt immer etwas hängen. Also muß die Semantik von Dekadenz affirmativ gewendet werden. Wir sind die Gesellschaft, vor der uns fundamentalistische Eiferer immer gewarnt haben!“