Ein Interview mit dem Historiker Götz Aly im Börsenblatt, das für sein demnächst erscheinendes Buch über 1968 einiges erhoffen läßt:
Götz Aly: In den Jahren 1967 und 1968 fanden die meisten NS-Prozesse in der Bundesrepublik statt, vielfach verhängten die Schwurgerichte lebenslange Haftstrafen. Die Regierung Kiesinger / Brandt verlängerte noch einmal die Verjährungsfrist für Morddelikte und bekundete damit den Willen, die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen fortzusetzen. Die 68er haben das damals alles verdrängt. Wenn Sie heute einen ehemaligen 68er fragen, an welche NS-Prozesse von ’68 er sich erinnert, dann fällt dem nichts ein. Damals wurden Prozesse wegen der Massenmorde in Treblinka, Sobibor und Belzec geführt, Prozesse gegen KZ-Personal und SD-Mörder – für die Linksradikalen von damals spielte das keine Rolle, in ihren zahllosen Postillen und Flugschriften fand das keinen Niederschlag. Stattdessen suchten die aufbegehrenden Studenten die Völkermörder im Ausland, vorzugsweise in den USA, schließlich sogar in Israel – überall, nur nicht bei sich zu Hause. Der Faschist wandelte sich vom Deutschen mit Namen und Adresse zur weltweiten Erscheinung. Diese widerliche Gestalt wurde nach den nun gängigen Faschismus-„Theorien“ in den Agenturen des Imperialismus und des Kapitals ausgebrütet, stammte nicht etwa aus kerndeutschen Familien aller sozialer Schichten. Kurz gesagt: Die linken Studenten wichen vor der Last der Vergangenheit aus, sie waren damit überfordert und flüchteten in den Internationalismus. Sie werden mir keinen Dutschke-Text, keinen Artikel in Enzensbergers „Kursbüchern“ jener Jahre zeigen können, in dem die Last der NS-Vergangenheit thematisiert wird.
Wolfgang Schneider: Diese Verdrängung macht es dann aber möglich, dass die Studentenbewegung – so die These Ihres Buches – vielfach unbewusst bei der NS-Generation anknüpfen konnte. Was sind die Gemeinsamkeiten?
Aly: Der merkwürdige politische Radikalismus des Alles oder Nichts, der Wille, den neuen Menschen zu schaffen und die ganze Welt neu zu erfinden, schließlich das Antibürgerliche und die Versuche, Elite und Volk zu versöhnen – in all diesen Punkten bestehen Ähnlichkeiten zwischen den 33er-Vätern und ihren 68er-Kindern.
Frage: Man wollte Tabula rasa machen. Es war selbstverständlich, dass bei der anstehenden Revolution Zehntausende über die Klinge springen würden.
Aly: 1969 schloss man Wetten auf die Revolution ab – ob sie nun in einem oder in drei Jahren stattfinden würde. Und man unterhielt sich, was mit denen geschehen sollte, die sich nicht an die neuen revolutionären Verhältnisse anpassen würden. Das finden Sie auch in den Schriften und Interviews Rudi Dutschkes alles sehr deutlich, diese utopischen und damit auch gewalttätigen Phantasien der Studentenbewegung, mit denen sie anschloss an die totalitären Traditionen des 20. Jahrhunderts.
Frage: Die Gewalt war also keine spätere Fehlentwicklung?
Aly: Das war von Anfang an angelegt in der Idee des außerparlamentarischen Widerstands. Da ging es sehr bald um Machtproben mit der Polizei und um Bomben, lange vor der RAF. „Wenn wir uns nicht wehren, dann machen wir uns zum Juden“ – das sagte Dutschke immer wieder. Heute eine unvorstellbare Formulierung.