Mein Beitrag aus der morgigen ZEIT, Nr. 35, S. 6:
Der russische Botschafter in Berlin, ein eleganter Mann um die fünfzig mit exzellenten Deutschkenntnissen, vertritt sein Land seit vier Jahren mit Charme und urbanem Chic. Wladimir Kotenew ist bei aller Loyalität gegenüber seinem Förderer stilistisch ein Anti-Putin, ohne machohafte Machtgesten. Doch an diesem Mittwoch, dem ersten Tag nach Einstellung der Kampfhandlungen im Kaukasus, steht der sonst so konziliante Botschafter sichtlich unter Strom. Er hat die deutsche Presse geladen, um sie in dem riesigen stalinistischen Herrschaftsgebäude Unter den Linden mit der offiziellen Lesart des Kaukasus-Krieges vertraut zu machen: »Hinterlistige Georgier«, sagt er mit verbissener Miene, hätten Zchinwali überfallen. Sie hätten »Kinder und alte Frauen zermalmt«, Menschen in Kirchen verbrannt und Friedhöfe planiert. Eine »Tragödie von unvorstellbarem Ausmaß« und ein »versuchter Völkermord« gingen auf das Konto des »größenwahnsinnigen« Präsidenten Saakaschwili. Russland habe lediglich seinen »Friedenseinsatz« zum Schutz des Völkerrechts fortgesetzt, ganz wie der Westen im Kosovo.
Im Auftritt des Botschafters liegen Wut und Genugtuung, Bitterkeit und Triumphgefühl auf eine überraschend undiplomatische Weise offen zutage. Er wirkt wie befreit, wenn er voller Sarkasmus vom »ausgezeichneten Englisch« und den »großartigen Beratern« des georgischen Präsidenten redet. Ob Russland sich nicht international isoliere durch sein Vorgehen, wird Kotenev gefragt. »Ach, wissen Sie, Russland war fast immer allein«, gibt er zurück. Russlands Argumente würden sowieso abgetan, winkt er ab.
Wie stichhaltig also sind die russischen Argumente?
Erstens: Wir mussten unsere Friedenstruppen verteidigen
Wer angefangen hat, wird sich vielleicht nie ermitteln lassen. Die Georgier behaupten,sie hätten erst geschossen, als die russische Armee bereits durch den Roki-Tunnel auf Südossetien hin marschierte. Die Russen hingegen sagen, ihre Truppen hätten den Tunnel erst betreten, als die Georgier schon die südossetische Hauptstadt Zchinwali mit Feuer belegten. Und zwar, um ihren »Friedenstruppen«, die dort seit 1992 stationiert sind, zu Hilfe zu kommen. Georgische Selbstverteidigung gegen eine lange geplante russische Invasion oder russische Selbstverteidigung der »legalen Friedenstruppen«? Die russischen peacekeeper hatten allerdings keinen Finger gerührt, als georgische Dörfer am 7. August von südossetischen Separatisten beschossen wurden. Sie verletzten damit das Gebot der Unparteilichkeit. Legitime Ziele für die Georgier wurden sie dadurch dennoch nicht. Doch in der Nacht zum 8. August rückten die Georgier mit schwerer Artillerie auf Zchinwali vor. Sie griffen umliegende Dörfer an und beschossen die im Tal liegende Hauptstadt aus der Höhe mit BM-21-Raketenwerfern, den Nachfolgern der berüchtigten »Stalinorgel«. Diese Waffe deckt ganze Flächen mit Raketenhagel ein. Wer sie auf eine schlafende Stadt richtet, nimmt zivile Opfer in hoher Zahl in Kauf. Die Russen sprachen von 2000 Opfern – eine Zahl, die von unabhängigen Beobachtern bestritten wird. Wie dem auch sei: Der nächtliche Beschuss Zchinvalis durch die Georgier hat nicht nur die Russen, sondern auch die USA entsetzt. Der amerikanische Kaukasus-Gesandte Bryza nennnt diesen Akt »illegal und schrecklich«. Wenn russische peacekeeper dabei getroffen wurden, wie Moskau behauptet, ließe sich daraus in der Tat ein russisches Recht zur Selbstverteidigung ableiten. Eine Rechtfertigung für die anschließende russische Invasion georgischen Kernlandes wäre dies aber keineswegs, und auch nicht für den Einsatz von russischen Streubomben gegen georgische Zivilisten, den Beobachter von Human Rights Watch dokumentiert haben. Daher ist die einhellige westliche Kritik der russischen Reaktion als »unverhältnismäßig« korrekt: Sie impliziert ja, dass es eine angemessene Antwort hätte geben können.
Zweitens: Wir mussten unsere Staatsbürger im Ausland schützen
Prinzipiell ist das ein stichhaltiges Argument. Das Recht zum Schutz eigener Staatsbürger im Ausland in Krisensituationen impliziert allerdings zunächst konsularische Hilfe und im äußersten Notfall auch eine militärisch gestützte Evakuation – nicht aber die Invasion eines souveränen Staates.
Der russische Nato-Botschafter Rogosin zitiert genüsslich, wie oft westliche Staaten das Argument in Anspruch genommen haben – zum Beispiel Belgien im Kongo oder die USA in Grenada und Panama. Allerdings stehen diese Fälle für eine gescheiterte westliche Interventionspolitik unter vorgeschobenen Gründen, die Russland bisher immer kritisiert hat. Als Ronald Reagan Grenada unter dem Vorwand angreifen ließ, 600 amerikanische Medizinstudenten zu schützen, verlor er seine Glaubwürdigkeit. Will Russland sein Agieren im Kaukasus in die gleiche Reihe stellen?
Vor allem aber: Russland hat von langer Hand selbst erst die Situation geschaffen, die es nun treuherzig beklagt. Tausende russische Pässe wurden in den letzten Jahren an georgische Staatsbürger ossetischer und abchasischer Herkunft ausgegeben, als deren Schutzmacht man sich nun geriert. Die russische Politik der demografischen Destabilisierung und der Ermutigung zum Separatismus verträgt sich schlecht mit der Berufung aufs humanitäre Völkerrecht.
Drittens: Wir mussten einen Genozid verhindern
Dieses Argument ist kaum ernst zu nehmen. Bei aller Kritik am georgischen Beschuss Zchinvalis: Human Rights Watch wurde von Ärzten des dortigen Krankenhauses unterrichtet, dass nach dem Ende der Kämpfe 273 Verwundete behandelt und 44 Tote in die Leichenhalle eingeliefert wurden. Das schließt nicht aus, dass die endgültigen Zahlen höher sein werden, weil noch nicht alle Opfer geborgen sind. Doch die russische Behauptung, allein in den ersten Stunden des Konflikts seien 1400 Menschen getötet worden, erscheint in diesem Licht wenig glaubhaft.
Ziel der Georgier war die Wiedererlangung der Kontrolle über ihr eigenes Staatsgebiet, nicht die Vertreibung oder Auslöschung der Osseten. Und schließlich: Nachdem die georgische Armee sich vor der russischen Übermacht zurückziehen musste, begannen Südosseten mit Plünderungen und Vertreibungen in georgisch dominierten Dörfern. Russische Soldaten haben dies offenbar geschehen lassen und, wo überhaupt, erst spät eingegriffen. Der bereits vorhandene Hass der Osseten auf die georgischen Nachbarn wurde durch die russische Propaganda mit der vermeintlichen Völkermord-Absicht der Georgier noch zusätzlich angefacht. Ein ossetischer Beamter erklärte gegenüber NGO-Vertretern freimütig, man habe Häuser verbrannt, um sicherzustellen, dass die Georgier nicht mehr wiederkämen. Für solches Verhalten hat sich der Begriff ethnische Säuberung eingebürgert.
Viertens: Wir verteidigen das Selbstbestimmungsrecht wie ihr im Kosovo
Völkerrechtlich gesehen, gibt es eine Parallele. Wie die Albaner des Kosovo herauswollten aus Serbien, so streben die Osseten heraus aus Georgien. Die Südosseten haben in Referenden gegen den Verbleib ihrer Region im georgischen Staat gestimmt. (Bürger georgischer Herkunft wurden allerdings an der Teilnahme gehindert.) Und indem der Westen im vergangenen Februar das Kosovo anerkannte, das einseitig seine Unabhängigkeit von Serbien erklärt hatte – so argumentieren die Russen –, habe er einen gefährlichen Präzedenzfall geschaffen. Auch im Westen gab es Warner, und manche Staaten mit eigenen Minderheitenproblemen wie Spanien haben das Kosovo nicht anerkannt.
Aber die Analogie hat Grenzen: Die Russen haben sofort nach dem Zerfall der Sowjetunion ossetische und abchasische Separatisten gefördert, um das unabhängige Georgien zu schwächen. Der Westen hingegen hat sich bis 1999 aus dem Kosovo herausgehalten und erst angesichts kosovo-albanischer Flüchtlingstrecks militärisch eingegriffen. Man bemühte sich auf dem Balkan bis zuletzt um eine einvernehmliche Lösung mit Serbien – und musste schließlich doch gute Miene zur Unabhängigkeit des Kosovos machen. Nach einer jahrelangen Unterdrückungskampagne der Milošević-Regierung, die in der Vertreibung vieler Tausender Albaner mündete, war der Verbleib des Kosovos im serbischen Staatenverbund undenkbar geworden. Georgien hat sich gegen die Osseten keine vergleichbare Repression zuschulden kommen lassen. Russland aber hatte seit dem Ende der Sowjetunion immer wieder die ethnischen Konflikte Georgiens mit angeheizt, um das Land am Ausbruch aus seiner Einflusssphäre zu hindern.
Vorerst mit Erfolg. Doch die Argumentation mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker ist für das multiethnische Russland gefährlich – und selbstwidersprüchlich: Hat man nicht in Tschetschenien einst die Sezession bekämpft und Grosnyj in Schutt und Asche gelegt, um eine Abspaltung zu verhindern?
Die russische Retourkutsche für das Kosovo schmerzt den Westen mehr, als unsere Politiker jetzt zugeben können. Sie erinnert den Westen an eine unvermeidliche Intervention, die ohne UN-Beschluss geschah. Und an das schmähliche Scheitern bei dem acht Jahre währenden Versuch, eine politische Lösung unterhalb der Unabhängigkeit für das Kosovo zu finden. Eben darum reiten die Russen besonders gerne darauf herum. Außenminister Lawrow triumphiert, man könne »die territoriale Integrität Georgiens vergessen«, und Präsident Medwedjew fügt mit gespielter Arglosigkeit hinzu, man könne »von Osseten und Abchasen nach allem, was geschehen ist, nicht verlangen, in einem Staat mit den Georgiern zu leben«. Sie werden womöglich recht behalten. Russland hat jedenfalls viel dafür getan, dass es so kommt.