Zu den Schreckgespenstern unserer Islamdebatte gehört eine drohende Einführung der Scharia hierzulande. Doch die Scharia braucht in Deutschland gar nicht mehr eingeführt zu werden. Es gibt sie auch hier bei uns längst an jeder zweiten Ecke. Sie hat nur wenig mit der Vorstellung von komplett verhüllten Frauen, abgehackten Händen und Gesteinigten zu tun, wie wir sie etwa aus Afghanistan, Iran oder Saudi-Arabien kennen.
Viele türkische Läden hier bieten ausschließlich Produkte an, die halal sind – also erlaubt gemäß dem Schariarecht. Das Bundesverfassungsgericht hat das islamische Schächten grundsätzlich erlaubt. Verbraucherzentralen geben »Einkaufsführer für Muslime« heraus, in denen islamisch korrekte Nahrungsmittel empfohlen werden. Und außer im Lehrberuf ist das religiöse Kopftuch bei uns am Arbeitsplatz ausdrücklich vom Gesetzgeber geschützt. All das fällt unter den schwer fasslichen Begriff »Scharia«.
Die Scharia ist kein Buch. Sie ist kein feststehender Codex, den man kaufen und nachschlagen kann. Scharia (in etwa: Weg) bezeichnet die Summe von Pflichten und Verboten, die das Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft prägen – von der religiösen Praxis bis zum Erbrecht, von den Speisegeboten bis zum Straf- und Kriegsrecht. Als göttliches Recht wird die Scharia von den Rechtsgelehrten der vier führenden sunnitischen Schulen und den schiitischen Ajatollahs nach überlieferten Methoden aus dem Koran, den Überlieferungen über Mohammed (Hadithen) und den Texten großer Lehrer gedeutet.
Diese Rechtsgelehrten sind mächtig und schwach zugleich: Es gibt viele starke Meinungen, doch keine ist absolut verbindlich. Nur ein kleiner Kernbestand religiöser Pflichten ist unumstritten. Über viele Themen im Leben moderner Muslime – von der Kopftuchpflicht bis zur Bedeutung des Dschihad – gibt es sehr viel mehr Dissens, als die Autoritäten gerne zugeben möchten. Scheichs der islamischen Welt wie der populäre Ägypter Karadawi, der Selbstmordattentate für halal erklärt hat, sehen sich zunehmend von westlichen Gelehrten wie dem Amerikaner Abou el-Fadl herausgefordert, der sie als Barbarei bezeichnet und im Widerspruch zum islamischen Recht sieht (haram). (Hier deren Debatte lesen.)
Dieser Kampf um die Deutungshoheit geht auch Nichtmuslime an: Wer darf die Scharia auslegen? Nur die Muftis, Scheichs und Ajatollahs des Nahen Ostens, die sie antiwestlich aufladen? Oder auch junge muslimische Intellektuelle im Westen, die in der freiheitlichen Verfassung den besten Rahmen entdeckt haben, als Muslim gottgefällig zu leben?
Die heikle Frage hier: Ist es denkbar, im Rahmen des islamischen Rechtsdenkens, das diese Trennung nicht kennt, den Vorrang der Verfassung und der weltlichen Gesetze vor dem geoffenbarten Recht zu denken? In dieser Frage ist die Jury noch draussen.