Ein großartiger Essay von Ralf Dahrendorf im Merkur über die Welt nach der Krise. Auszüge:
Die hier verfochtene These ist, dass wir einen tiefgehenden Mentalitätswandel erlebt haben und dass jetzt, in Reaktion auf die Krise, wohl ein neuerlicher Wandel bevorsteht. Man kann dem hinter uns liegenden Wandel einen simplen Namen geben: Es war ein Weg vom Sparkapitalismus zum Pumpkapitalismus. (Ich habe diesen Weg vor einem Vierteljahrhundert beschrieben.(1)) Es geht also um vorherrschende Einstellungen zu Wirtschaft und Gesellschaft. Das sind nicht etwa nur Einstellungen der Unternehmer und Manager aller Art, sondern auch der Verbraucher, also der meisten Bürger. Das ist wichtig, auch wenn viele es nicht gerne hören, weil sie lieber ein paar Schuldige an den Pranger stellen wollen, als Selbstkritik zu üben.
Die Mentalitäten, von denen hier die Rede ist, haben etwas zu tun mit Max Webers Analyse Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Die brillante Schrift hat ihre Schwächen, Richard Henry Tawney hat schon früh gezeigt, dass es auch in katholisch geprägten Gegenden Kapitalismus gab.(2) Plausibel bleibt jedoch Webers These, dass der Anfang des kapitalistischen Wirtschaftens eine verbreitete Bereitschaft verlangt, unmittelbare Befriedigung aufzuschieben. Die kapitalistische Wirtschaft kommt nur in Gang, wenn Menschen zunächst nicht erwarten, die Früchte ihres Tuns genießen zu können. In jüngerer Zeit ist diese Wirkung häufig eher durch staatlichen Zwang erzielt worden. Russland, auch China haben diesen »sowjetischen« Weg genommen. Es lässt sich aber argumentieren, dass es in Teilen Europas eine Zeit gab, in der religiöser Glaube Menschen zum Verzicht und zum Sparen trotz harter Arbeit anhielt. Im calvinistischen Protestantis mus zumal galt das Jenseits als der Ort der Belohnung für den Schweiß der Arbeit im Diesseits.
Max Weber hatte England und Amerika im Sinn, als er derlei schrieb, wobei er für die luthersche Variante Raum fand. Auch gibt es in Europa noch sehr alte Leute, die sich an eine Zeit erinnern können, als Arbeit und Sparen die prägenden Lebensmaximen waren. (In den Vereinigten Staaten haben Veränderungen schon früher, gleich nach dem Ersten Weltkrieg, begonnen.) Seitdem aber hat überall ein Mentalitätswandel stattgefunden, den Daniel Bell in seinem Buch Cultural Contradictions of Capitalism in mehreren Aufsätzen beschrieben hat. Sein Thema dort ist »die Entwicklung neuer Kaufgewohnheiten in einer stark auf Konsum angelegten Gesellschaft und die daraus resultierende Erosion der protestantischen Ethik und der puritanischen Haltung«.
Das Buch erschien 1976. Schon damals sah Bell ein explosives Paradox im Kapitalismus. Auf der Seite der Produktion werden weiter die alten Werte von Fleiß und Ordnung verlangt; aber der Antrieb der Produktion ist in zunehmendem Maße »materialistischer Hedonismus und psychologischer Eudaimonismus«. Mit anderen Worten, der entwickelte Kapitalismus verlangt von den Menschen Elemente der protestantischen Ethik am Arbeitsplatz, aber das genaue Gegenteil jenseits der Arbeit, in der Welt des Konsums. Das Wirtschaftssystem zerstört gleichsam seine eigenen Mentalitätsvoraussetzungen.
Als Bell das schrieb, war der nächste Schritt der Wirtschaftsmentalität noch nicht getan, nämlich der vom Konsumwahn zum fröhlichen Schuldenmachen. Wann begann dieser Weg? In den achtziger Jahren gab es jedenfalls schon Menschen, die für ein paar hundert Mark auf eine sechswöchige Weltreise gingen und deren tatsächliche Kosten noch abzahlten, als schon niemand von ihren Freunden und Bekannten die Dias mehr sehen wollte, die sie in Bangkok und Rio gemacht hatten. Daniel Bell spricht zu Recht vom Ratenzahlen als dem Sündenfall. Nun begann der Kapitalismus, der schon vom Sparkapitalismus zum Konsumkapitalismus mutiert hatte, den fatalen Schritt zum Pumpkapitalismus.
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Ein Zurück zur protestantischen Ethik wird es also nicht geben. Wohl aber ist eine Wiederbelebung alter Tugenden möglich und wünschenswert. Ganz wird man Daniel Bells Paradox des Kapitalismus nicht auflösen: Der Antrieb des modernen Kapitalismus liegt in Präferenzen, die die Methode des modernen Kapitalismus nicht gerade stärken. Weniger abstrakt formuliert: Arbeit, Ordnung, Dienst, Pflicht bleiben Erfordernisse der Voraussetzungen des Wohlstandes; der Wohlstand selbst aber bedeutet Genuss, Vergnügen, Lust und Entspannung. Menschen arbeiten hart, um im strengen Sinn überflüssige Dinge zu schaffen. Da tut es gut, an Ludwig Erhards ständige Mahnungen zum Maßhalten zu erinnern. Es ist auch wichtig, dass Menschen den Bezug zu unentbehrlichen Elementen des Lebensstandards – in diesem Sinne zu Realitäten – nicht verlieren.
Hat die Welt nach der Krise einen Namen? Das Fragezeichen, mit dem diese Anmerkungen begonnen haben, bleibt bestehen. Allzu viele Ungewissheiten verbieten die entschiedene Stellungnahme für den einen oder anderen Begriff. Zum Sparkapitalismus werden wir nicht zurückkehren, wohl aber zu einer Ordnung, in der die Befriedigung von Bedürfnissen durch die nötige Wertschöpfung gedeckt ist. Der »rheinische Kapitalismus«, also die Konsenswirtschaft der Großorganisationen, hat wahrscheinlich ausgedient. Sogar die Frage muss erlaubt sein, ob das System der Mitbestimmung irgend hilfreich war und ist bei der Bewältigung der Krise. Wenn die Frage nicht eindeutig bejaht werden kann, ist neues Nachdenken über die Formen der Berücksichtigung der »stakeholder« nötig. Der Pumpkapitalismus muss jedenfalls auf ein allenfalls erträgliches Maß zurückgeführt werden. Nötig ist so etwas wie ein »verantwortlicher Kapitalismus«, wobei in dem Begriff der Verantwortung vor allem die Perspektive der mittleren Fristen, der neuen Zeit, steckt.