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Ein nüchterner Blick auf Guantánamo

 

Mitblogger N. Neumann mahnt, sich die Sache mit Guantánamo nicht zu einfach zu machen, selbst wenn die Kritik an der Bush-Regierung berechtigt sein mag:

Wie kann man mit der Bitte um Entlastung bei diesen Gefangenen an eine befreundete Regierung herantreten, wenn im eigenen Land – und von Führern der Regierungspartei! – gefordert wird, die anderen Gefangenen dürften “nicht auf amerikanischem Boden bleiben, nicht einmal in Hochsicherheitsgefängnissen”?

Gerade deshalb. Es existieren Gründe für die Annahme, dass es sich bei den Uiguren um die für westliche Staaten vergleichsweise harmlosesten Besucher von Lagern der al-Kaida handelt. Wenn man Gefangene, die (warum im einzelnen auch immer) nicht ihrem Ursprungsland übergeben werden können, noch am ehesten loswerden kann, dann die Uiguren – so wahrscheinlich das Kalkül. Bei den anderen Problemfällen gehen manche wahrscheinlich davon aus, dass es noch unwahrscheinlicher ist, dass sie von einem anderen Staat aufgenommen werden.

Wobei “nicht einmal in Hochsicherheitsgefängnissen” wirklich grober populistischer Unfug ist.

Da entsteht doch der Eindruck, die Gefangenen sollten wie eine Art juristischer Sondermüll irgendwo in der Welt verklappt werden – um zu Hause die nötigen Debatten über die rechtspolitische Sackgasse zu vermeiden, in die die Bush-Regierung sich manövriert hat.

Die Gefangenen sind teilweise auch “juristischer Sondermüll”. Wie mit sog. unlawful combattants (der Begriff wurde nicht von den Bushies erfunden) zu verfahren ist, ist kriegsvölkerrechtlich und ebenso nach nationalem Recht nicht klar geregelt, es handelt sich um eine juristische Grauzone. Die Bushies haben sie ausgenutzt, aber eben nicht geschaffen; eindeutig ist allein, dass sie nicht gefoltert werden dürfen.

Der Ursprung des Problems besteht darin, dass das zeitgenössische Kriegsvölkerrecht wesentlich zur Zeit der Staatenkriege entstand und lediglich mit Blick auf konkurrierende Regierungen bzw. eine siegreiche Guerilla (sog. de facto-regime oder stabilisierte de facto-regime) innerhalb eines Staates erweitert wurde. Dass die Akteure de facto jedoch transnational operierende Terroristen (al Kaida) sind und/oder im Auftrag eines de facto-regimes (Taliban) gekämpft haben, dessen völkerrechtliche Einordnung als de facto-regime aus gutem Grund als zweifelhaft gelten kann, war definitiv nicht vorgesehen.

Lange Rede, kurzer Sinn: Es wird vor allem in Bezug auf die rechtliche Ebene von Menschenrechtsorganisationen, dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, etlichen Journalisten sowie einigen Völkerrechtlern seit Jahren der Eindruck erweckt, dass die Anomalie (altgriechisch “Unregelmäßigkeit”) Guantanamo relativ einfach gelöst werden könnte. Die Wahrheit ist jedoch, dass die verbleibenden Gefangenen auch ohne das Lager Guantánamo und ohne Folter ein besonderes, kein einfach zu lösendes juristisches und politisches Problem wären. Die verständliche Empörung über die (Un)Rechtspraxis der Bushies in Guantanamo hat vielen bis heute den nüchternen Blick darauf verstellt.

Kritik an der Vorgehensweise der Regierung Bush zu üben bzw. zu sagen, was man nicht tun darf und soll, war und ist ungleich einfacher, als Wege für die Lösung eines Problems zu finden, dass durch der Regierung Bush verschärft, aber nicht geschaffen wurde.

Zumal der unkomplizierte Gefangenen-Typus des von miesen Gesellen verhökerten völlig harmlosen Kabuler Taxifahrers mittlerweile wohl nicht mehr in Guantanamo sitzt und sich ohne rückfällig geworden zu sein in Freiheit befindet.