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Was Sarrazins Interview bedeutet

 

Mein Leitartikel aus der ZEIT von morgen, Nr .42, S.1.:

Erst hat er gepoltert, dann hat er sich entschuldigt: Thilo Sarrazin, der Haifisch im Karpfenteich der Berliner Politik, hat wieder eines seiner berüchtigten Krawall-Interviews gegeben. In schnoddrigem Ton dozierte er über die Missstände des Einwanderungslandes Deutschland, wie sie sich in Neukölln und Berlin-Mitte verdichten: Schulversagen, Importbräute, aggressiver Machismo und das Versacken auch der dritten Generation – vor allem von Mi­gran­ten türkischer und arabischer Herkunft – in staatlich alimentierten Parallelgesellschaften.
Es ist eine Errungenschaft, über diese Dinge unverklemmt und ohne Hass debattieren zu können. Deutschland übt erst seit ein paar Jahren den freieren, konfliktfreudigen Blick auf die selbst verschuldeten Folgen fehlgesteuerter Einwanderung und verweigerter Integration: Ja, es muss möglich sein, über die unterschiedlichen Integrationserfolge verschiedener Gruppen zu reden, über Geschlechterrollen, Familienstrukturen und religiöse Prägungen, die dabei den Ausschlag geben.
Falls Thilo Sarrazin, in den Vorstand der Bundesbank gewechselter ehemaliger Berliner Finanzsenator, dazu einen Beitrag leisten wollte, ist er allerdings spektakulär gescheitert. Mit maßlosen Zuspitzungen hat er der Integrationsdebatte – und sich selbst – einen Tort angetan. Eine »große Zahl von Arabern und Türken in dieser Stadt« habe, meint Sarrazin, »keine produktive Funktion außer für den Obst- und Gemüsehandel«. Was soll dieser Hohn über kleine Selbstständige, die schuften, damit die Kinder es einmal besser haben? Wir sollten feiern – wie man es im Einwanderungsland USA tut –, dass diese Menschen lieber arbeiten, als von Transferleistungen zu leben. Sarrazin räumt ein, dass »nicht jede Formulierung in diesem Interview gelungen war«. Mehr als das: Er kokettiert auch mit rechtsradikalen Denkfiguren: »Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate.« Nun wird sein Rücktritt aus dem Bundesbank-Vorstand gefordert. Zurücktreten muss er nicht. Aber es sollte ihm zu denken geben, dass die NPD in Sachsen ihm höhnisch das Amt des Ausländerbeauftragten anträgt.
Sarrazin hat mit seinem Interview das Dokument einer gesellschaftspolitischen Wasserscheide vorgelegt. Wer die fünf eng bedruckten Seiten in Lettre International liest und zugleich die Regierungsbildung verfolgt, steht verblüfft vor der Tatsache, dass ein prominenter SPD-Mann am rechten Rand entlanggrantelt, während die konservativ-liberalen Koalitionäre über einer modernen Integrationspolitik brüten. Das ist die eigentliche Bedeutung des Sarrazin-Interviews: Die Sozialdemokratie hat das Zukunftsthema Integration an die ideologisch flexiblere andere Seite abgegeben. Sarrazin war sieben Jahre lang in einer Regierung, die beinahe nichts gegen die weitere Verwahrlosung und ethnische Se­gre­ga­tion in der Hauptstadt getan hat. Und nun bramarbasiert er apokalyptisch über »Unterschichtgeburten« und die »kleinen Kopftuchmädchen«, wie es früher die Rechte getan hat.
Währenddessen haben die Konservativen ihren Frieden mit dem Einwanderungsland gemacht, ohne die Augen vor den Problemen zu verschließen – und denken schon ganz pragmatisch über ein Integrationsministerium auf Bundesebene nach. Sie wollen Deutschland nicht mehr abschotten, sondern zu einer »Auf­stei­ger­repu­blik« umbauen – so der CDU-Politiker Armin Laschet –, in der Chancengerechtigkeit und Leistungswille vor Herkunft gehen.

Das ist das integrationspolitische Motto der ­Mitte-rechts-Koalition für das Einwanderungsland Deutschland. Die CDU kann dabei glaubwürdig führen, gerade weil sie früher die Partei des Leugnens und Verdrängens war. Sie kann all jene mitnehmen, denen der Wandel zu schnell geht. Die wirtschaftsnahe FDP kann, getrieben vom wachsenden Fachkräftemangel, den Bewusstseinswandel befördern: Wir brauchen eine gestaltende Einwanderungspolitik. Die Konsequenzen der verfehlten Gastarbeiterpolitik früherer Jahrzehnte gilt es jetzt anzupacken.
Und dazu wird es eines veritablen New Deal mit den Migranten bedürfen. Man könnte es auf diese Formel bringen: größere Aufnahmewilligkeit gegen mehr Engagement und Eigenverantwortung. Also: Wir werden euch schneller als Teil dieses Landes akzeptieren, wenn ihr euch mehr reinhängt. Was die türkische Gemeinschaft angeht, läuft es auf Fragen dieser Art hinaus: Statt es zur Ehrensache zu machen, gegen Sprachnachweise beim Ehegattennachzug zu streiten – wie wäre es mit einem Kampf für besseren Deutschunterricht? Wann fangt ihr an, nicht vor allem durch Moscheeneubauten und den Kampf für Gebetsräume in Schulen, sondern durch Leistung auf euch aufmerksam zu machen?
Wir müssen Einwanderer künftig aussuchen: Ein Punktesystem muss her, das formuliert, wen wir brauchen. Die Einbürgerung aber muss erleichtert werden, und zwar abhängig von Fortschritten bei der Integration: Warum sollen erfolgreiche Migranten acht Jahre lang auf ihren Pass warten? Die sogenannte Mehrheitsgesellschaft muss sich fragen lassen, warum es so verteufelt schwer ist, hierzulande dazuzugehören – selbst wenn man erfolgreich ist. Wie hieß es doch im Wahlkampf: Leistung muss sich lohnen.
Schwarz-Gelb sucht ein Projekt. Unbescheidener Vorschlag: nach Eingliederung der Vertriebenen und Wiedervereinigung nun die Integration der Neudeutschen – eine »dritte deutsche Einheit« (Laschet), das wäre doch was.