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Gar elump war der Pluckerwank

 

Superduper off-topic: Meine Kritik des neuen Films von Tim Burton (ZEIT Nr. 10, S. 50) – Alice im Wunderland:

Es ist einfach zwingend, dass der grosse Phantast des amerikanischen Kinos, Tim Burton, sich eines Tages an “Alice im Wunderland” versuchen mußte. Seine Welt waren immer schon die bizarren Alp- und Tagträume, die Freaks und Misfits. Und sein großes Thema ist die Würde derAußenseiter – von den Gespenstern in dem frühen Film Beetlejuice über seine beiden Batman-Variationen bis zu dem unvergesslichen “Edward mit den Scherenhänden”.
Wer nun Burtons “Alice” sieht, erkennt, was vor allem der wunderbare Edward bereits Lewis Carroll verdankt. Denn der Gothic-Punk-Frankenstein erlebte ja eine Umkehrung des Schicksals von Alice: Ein Wesen aus einer Märchenwelt fand sich plötzlich in der bizarr überspitzten amerikanischen Vorstadtnormalität wieder, zwischen fein gestutzten Hecken und hoch toupierten Fönfrisuren. Und siehe da, der Freak war im Herzen normaler als die Bürger. Immer schon war das Burtons Obsession: das Monströse im Normalen und das Normale im Monströsen zu suchen.

Kein Wunder also, dass er nun Alice um eine Lesart bereichert: Sie ist bei ihm nicht das gelangweilte, überschlaue kleine Mädchen, das mit merkwürdigen sprechenden Tieren durch die Unterwelt streift. Alice ist eine junge Frau um die 20, die der viktorianischen Vermählung mit einem reichen, aber langweiligen Bräutigam entflieht und sich nach dem Sturz durchs Kaninchenloch in einer Traumwelt voller Bewährungsproben wiederfindet. Die schöne Mia Wasikowska gibt dem erwachenden Eigensinn mit blonden Wallehaaren und mürrischem Blick ein neues Gesicht: “Dies hier ist mein Traum”, insistiert sie, als die Bewohner des Wunderlandes in Frage stellen, ob sie überhaupt die “richtige Alice” sei. Sie war schon einmal hier, als junges Mädchen. Nun, an der Schwelle zur Erwachsenenwelt, ist sie wiedergekommen, um den Drachen Jabberwocky zu erschlagen, der roten Königin (Helena Bonham-Carter) und dem Herzbuben (Crispin Glover) Paroli zu bieten, den Märzhasen und den verrückten Hutmacher (Johnny Depp) immer wieder auf den Teppich zu holen, wenn diese beiden völlig durchzudrehen drohen.
Es ist wohl der Drehbuchautorin Linda Woolverton zu verdanken, dass das Märchen bei aller anarchistisch-surrealen Treue zu Carrols Phantasie eine feministische Ertüchtigungsmoral bekommen hat: Am Ende, zurückgekehrt aus den Prüfungen des Wunderlands, steigt Alice gar ins Geschäft des Vaters ein, im Ostasienhandel. Nach China zieht es sie, in ein reales Wunderland also. Linda Woolverton war schon an Disneys Girlpower-Drama “Mulan” beteiligt. Alice gerät ihr zur Schwester der säbelschwingenden Chinesin.
Tim Burton hat diesen Film zwar nicht mit speziellen 3D-Kameras gedreht wie Cameron seinen Avatar. Alice wurde für die 3D-Vorführung nachträglich aufbereitet. Das mag die merkwürdige Flachheit mancher Aufnahmen erklären, in denen die Figuren scherenschnitthaft vor den Hintergründen kontrastieren. Aber das ist kein Unglück: Es gibt dem Film einen Touch von Laterna Magica, der wunderbar zum Stoff passt. Sich die 3D-Kassengestellbrille aufzusetzen bedeutet ein Einverständnis damit, dass das Kino wieder ein Stück weit zur Jahrmarktattraktion zurückkehrt, mit der alles einmal angefangen hat.
Burton hat einen unverklemmten Hang zu Trash, Rummelplatz und Krawall, wie er immer wieder bewiesen hat. Nicht zufällig hat er dem schlechtesten Filmemacher aller Zeiten – dem Scifi-Amateur Ed Wood ein filmisches Denkmal gesetzt. Aber er ist eben auch ein großer Stilist, der seine visuelle Schöpferkraft hier ganz ausleben kann. Es sind die kleinen Episoden, die den Film sehenswert machen: der verrückte Fünf-Uhr-Tee beim Hasen und Hutmacher oder die Szene, in der die eiskalte rote Königin (Helena Bonham Carter) ihre Diener in Froschgestalt verhört. Auch die alte Grinsekatze, die sich beim Rede in Luft auflöst, erfreut, besonders in der englischen Originalversion, in der die Cheshire Cat mit Stephen Frys Stimme .spricht.
Hätten die streckenweise sehr dominanten Action-Elemente sein müssen? Der Jabberwocky, den Alice schließlich erlegen muss, um die Terrorherrschaft der roten Königin zu brechen, ist aus den Alien-Filmen geliehen. Bei Carroll entstammt er bekanntlich einem Nonsensgedicht. Die lange Drachentöterszene ist eine Konzession an das durchschnittliche Gewaltniveau heutiger Phantasyfilme. Und sie dient natürlich der Bebilderung von Girlpower. Wie weit ist diese Alice in der Ritterrüstung doch von dem kitschigen blonden Mädchen entfernt, das man aus früheren Verfilmungen kennt! Gebraucht hätte man die Action aber eigentlich nicht, denn die beiden Antipoden von Alice in der Unterwelt – Depps psychotischer Hutmacher und Bonham Carters gnadenlose Königin – bringen schon genug Spannung in den Film. Sie sind bei Burton alptraumhafte Figuren des verfehlten Erwachsenseins, gegen das sich Alice stemmt in ihrem Versuch, endlich zu ihrem eigenen Leben aufzuwachen. Ihr gelingt es schließlich auch – anders als seinerzeit Edward, der aus der Menschenwelt zurück in sein Märchenschloss fliehen musste, weil seine Scherenhände auch bei bestem Willen lebensgefährlich für seine Umwelt blieben.
Und wer will, kann in diesen beiden Werken von Tim Burton ein Sinnbild für die Ungleichheit der Größenphantasien erkennen, die heute beiden Geschlechtern angeboten werden: Mädchen kommen heute überall hin (wenn auch erst einmal nur in Gedanken). Jungs aber bleiben in ihren Luftschlössern gefangen.