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Warum Deutschland eine (andere) liberale Partei braucht

 

Soeben ist das Sonderheft der Zeitschrift Merkur erschienen. Ich habe dort über den real existierenden Liberalismus der FDP nachgedacht. Auszug:

Ohne Zweifel: Es gibt in Zeiten wie diesen Bedarf für eine vernünftige staatsskeptische Partei. Sie müsste einen zweiten Blick auf jene staatlichen Interventionen werfen, die Konsequenzen für kommende Generationen haben können, wie etwa die zahlreichen Milliarden-Rettungspakete. Aber nicht nur das ganz große Staatshandeln, auch das staatliche Hereinregieren im Kleinen verdient skrupulöse Aufmerksamkeit. Wir haben uns an das Mikromanagement der Lebensführung durch Instrumente des Nanny-State schon sehr gewöhnt − vom Rauch-, Kopftuch- und (demnächst vielleicht) Burkaverbot über Ehegattensplitting, Vätermonate bis zum Glühbirnenbann. Es käme darauf an, auf beiden Ebenen nicht von vornherein ideologisch dagegenzuhalten.

Es geht gewissermaßen um Staatsskepsis für Erwachsene, für Menschen, die den etatistisch-planerischen Überschwang der Siebziger ebenso hinter sich gelassen haben wie den gegenläufigen Optimismus der Thatcher und Reagan (auf sozialdemokratischer Seite: Clinton, Blair und Schröder), mit einem geordneten Rückzug des Staates würde schon von selber alles besser.
Von Ronald Reagan ist das Apercu überliefert, die neun schrecklichsten Worte der englischen Sprache lauteten: »I’m from the government, and I’m here to help.« Das würden wir wohl kaum mehr so sagen, spätestens seit dem Moment nach der Lehman-Brothers-Pleite, als staatliches Handeln eine große Depression verhindern musste. Nun muss die liberale Staatsskepsis sich auf die Höhe dieses geschichtlichen Ereignisses begeben, will sie nicht als Endmoräne des Reaganismus gelten.

Nicht erst der mit Mühe und Not verhinderte Crash des Herbstes 2008, sondern zuvor schon der 11. September 2001 hatte den Staat neu ins Blickfeld der Bürger gerückt. Anders als bei früheren Terrorwellen, die einzelnen Vertretern der Elite gegolten hatten, trat hier ja ein nichtstaatliches Netzwerk gegen die Bürger der freienWelt an und nahmsie direkt insVisier. Dieser neue Terror − in New York, London,Madrid und Bombay − war eine Herausforderung der Staatlichkeit als solcher. Die Bürger erwarteten Schutz vom Staat und erkannten scheiternde Staatlichkeit in Teilen der Welt als Mitursache der neuen asymmetrischen Konflikte.
Die deutschen Liberalen hatten dazu keinen Gedanken beizusteuern. Man erschöpfte sich in der Kritik der Schilyschen Sicherheitsgesetze, doch ohne zu reflektieren, dass dem angegriffenen und herausgeforderten Staat im Auge der Bürger eine neue Legitimation zugewachsen war. Es war, was auch immer man von den Sicherheitsgesetzen halten mag, nicht mehr zunächst der Staat, vor dessen Übergriff man den Bürger schützen musste. Diesen Staat musste man nun stärken gegen einen äußeren nichtstaatlichen Feind, und darum gestanden die Bürger dem Staat auch so viele erweiterte Rechte zu. Das Thema ist nicht damit erledigt, dass man hier die Exzesse zurückführt. Eigentlich ist das ein großes, klassisches Thema für Liberale: die Neudefinition des Staates in einer Welt, in der nicht bloß andere Staaten oder supranationale Institutionen, sondern nichtstaatliche Akteure − von den Taliban bis zu den Hedgefonds-Managern − ihm das Leben schwer machen.
Der FDP bietet sich in der Gesellschaftspolitik ein dankbares Thema an: die gefährdete Mitte, von der ja auch der Parteivorsitzende Westerwelle so häufig spricht. Nur findet er nicht den Ton, in dem diese Mitte gerne angesprochen wird. Es ist wahr: Die Mitte schrumpft in Deutschland, wenn auch noch nicht dramatisch. Dabei geht es aber nicht einfach nur um die mittleren Einkommen, sondern um eine Lebensform− um jene schwer fasslichen Milieus von Facharbeitern, Akademikern, Beamten und freien Berufen, die in Deutschland ein erstaunlich homogenes Wertemuster ausgebildet haben, in dem gute Ausbildung, Verantwortungsgefühl und bürgerliche Umgangsformen immer noch hochgehalten werden.

Was hat man nicht über die Mitte gespottet! Es ist aber mittlerweile eine gut durchlüftete Bürgerlichkeit, die in diesen Milieus gepflegt wird, und parteipolitisch ist sie nicht gebunden. Sie ist durch die Sozialdemokratie eines Helmut Schmidt ansprechbar, durch die Merkel-CDU, aber auch durch pragmatische Grüne, die schon in Teilen der Republik die Bürgermeister stellen. Liberale Bürgerlichkeit ist in Deutschland keineswegs mehr an eine nominell liberale Partei gebunden. Im Gegenteil: Zwischen Teilen dieser freiheitlich gesinnten Gesellschaftsschichten und den Liberalen gibt es geradezu ein Abstoßungsverhältnis. Statt dies als Indiz für eine untergründige, unkurierbare Illiberalität des deutschen Wesens zu nehmen, sollte sich die FDP fragen, woran es liegen mag, dass viele Herzensliberale sich außer Stande sehen, sie zu wählen.

Die deutsche Gesellschaft von heute ist so weitgehend durchliberalisiert, dass zum Beispiel ein schwuler Außenminister auch in konservativen Kreisen kein Grund zur Aufregung ist, eher noch zum heimlichen Stolz auf die Liberalität des eigenen Landes. Die Deutschen sind so tief imprägniert mit liberaler Staatsskepsis, dass es manchmal schon zu hysterischen Abwehreaktionen kommt − so etwa bei der beabsichtigten Sperrung von Kinderpornoseiten, die sofort eine Kampagne gegen »Zensur« hervorrief.

Was bleibt da den Liberalen noch zu tun? Wie redet man in einer solchen Gesellschaft − und vor einem solchen breiten Zielpublikum − einnehmend von der Freiheit? Sie muss heute und hierzulande nicht mehr gegen das Spießertum, auch nicht in erster Linie gegen einen übergriffigen Staat und schließlich kaum noch gegen totalitäre Ideologien verteidigt werden. Diese Schlachten sind geschlagen, wenn auch Nachhutgefechte immer wieder nötig sein werden.

Wie aber soll man dann im heutigen Deutschland von der Freiheit reden, der inneren wie der äußeren? Die Freiheit zur persönlichen Entfaltung muss nicht mehr lauthals verteidigt werden. Selbstverwirklichung als hoher Wert ist bis tief in konservative Milieus hinein durchgesetzt (wie die öffentlich debattierte Affäre des Gesundheitsministers Seehofer eindringlich bewiesen
hat). Die Kosten der Freiheit hingegen werden überall sichtbar, zum Beispiel in zerstörten Ehen und in den Kämpfen, die Alleinerziehende zu bestehen haben. Auf der großen politischen Bühne ist nach dem Ende der totalitären Diktaturen kein Erbe in Sicht, der die Ordnung der Freiheit im Westen gefährden könnte. Der Islamismus bleibt ein Problem, hat aber nicht das Zeug zum Nachfolger für Faschismus und Kommunismus.

Während die private Freiheitsmaximierung also an gewisse Grenzen
stößt, ist der Kampf der freien Gesellschaften gegen äußere Feinde zugleich eine komplizierte Sache geworden, man denke nur an die erfolgreiche Kombination von ökonomischer Liberalisierung und rigorosem Autoritarismus in China. Und schließlich ist der Markt nach den Erfahrungen der letzten Jahre nicht mehr einfach als reine Quelle der Freiheit zu reklamieren. Er zeigt in Gestalt des Kasinokapitalismus auch Züge einer Gefahr für die Freiheit − als großer Gleichmacher, als Vernichter von Lebenschancen.

Wie also soll die FDP von der Freiheit sprechen, damit sie von der Mitte unter diesen Umständen gehört wird? Wie verteidigt man die Freiheit unter Bedingungen der Freiheit? Nicht mit hohlem Pathos und geborgten Gegnerschaften aus dem Weltbürgerkrieg.
Westerwelle kann es nicht lassen, überall »Sozialismus« zu riechen, und auch sein junger Adlatus Christian Lindner, ein möglicher Nachfolger, erkennt in Vorschlägen der Linkspartei gerne »Sowjets«. Eine heimliche Sehnsucht nach den übersichtlichen Achtzigern und der Blockkonfrontation scheint die Déjà-vu-Gefühle dieser beiden zu treiben.

Damit korrespondiert eine Art Gutmenschentum der Freiheit, das immer das Positive sehen will und die Schmerzen derjenigen herunterspielt, die in der Multioptionsgesellschaft nicht zurechtkommen. Ein Markt, der für viele Menschen kein Freiheitsquell mehr ist, kommt im FDP-Weltbild nicht vor.
(…)

Der Niedergang der FDP in der Regierung ist kein Grund zur Genugtuung. Zwar gibt es heute Liberale in allen Parteien, aber nur der Partei des real existierenden Liberalismus stellt sich die Frage, was es heißt, unter Bedingungen der Freiheit liberal zu sein, in aller Direktheit und Grundsätzlichkeit. Darum würde sie eigentlich gebraucht. Freiheit braucht Tugenden. Eine freiheitliche Ordnung ist ja mehr als jede andere darauf angewiesen, dass ihre Akteure sich, orientiert an Werten, selber steuern. Liberale sollten also auch etwas dazu zu sagen haben, welche Ausübung der Freiheit heute die Freiheitschancen künftiger Generationen gefährdet: durch Verschuldung, Ressourcenverschwendung und andere Formen der Optionenvernichtung.
Allgemeiner gesagt: Es werden Liberale gebraucht, die in der Lage sind, über die moralischen Voraussetzungen einer freiheitlichen Ordnung nachzudenken, die auch der beste Markt nicht bereitstellen kann, und die sich auch nicht scheuen darüber zu reden, wenn die ungeordnete Freiheit sich selbst gefährdet. Falls es solche Liberale in der FDP gibt, wäre jetzt kein schlechter Moment, aus dem Versteck zu kommen.