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Stuttgart 21: Legimation durch Protest

 

Meine Kolumne „Bücher machen Politik“ aus der ZEIT von morgen:

Der Soziologe Niklas Luhmann hat in unvergleichlicher Trockenheit festgestellt, zwei Leistungen hätten die Bundesrepublik geprägt: die Marktwirtschaft und der Protest. Beides hat tiefe Wurzeln im Südwesten der Republik, nirgendwo gehen »Dabeisein und Dagegensein«, Industrie und Pietismus, Bürgerwut und Schlichtung so gut zusammen wie in Stuttgart. Wer verstehen will, was daran neu – und was alte Bundesrepublik – ist, muss zwei Luhmann-Klassiker lesen.
Der Titel eines seiner frühen Werke wird gern zitiert, um zu erklären, warum die Politik es heute so schwer hat, Zustimmung für Entscheidungen zu gewinnen, die korrekt zustande gekommen sind: »Legitimation durch Verfahren«, so Sigmar Gabriel mit Blick auf Stuttgart 21, sei »eben nicht mehr ausreichend.«
Aber was hat Luhmann mit seiner Formel gemeint? Dass die formale Korrektheit eines Verfahrens – etwa eines Ratsbeschlusses oder einer Planfeststellung – schon die Anerkennung durch die Bürger garantiert? So einfach war es nie. Moderne Gesellschaften brauchen Zustimmung unabhängig von Meinungsschwankungen der Bürger und vom Charisma der Herrschenden. Sie erzeugen diese politisch vor allem durch regelmäßige Wahlen und durch die Kontinuität der Gesetzgebung, die wiederum durch Wahlen beeinflusst und kontrolliert werden kann. So können Regierungen Entscheidungen treffen, die in Meinungsumfragen immer durchfallen würden. Eine moderne Gesellschaft ohne diese Fähigkeit wäre unregierbar. Wesentliche Entscheidungen der Nachkriegszeit sind von der Politik gegen populäre Stimmungen gefasst worden: Wiederbewaffnung, Westbindung, Ostpolitik, Nachrüstung. Aber: Auch solche Entscheidungen bleiben auf Anerkennung angewiesen. Bleibt sie aus, hilft auch der Hinweis auf die formale Korrektheit der Verfahren nichts.
Und da kommt der öffentliche Einspruch ins Spiel. In seinem 1996 erschienen Buch „Protest“ sagt Luhmann sardonisch, »die Gewohnheit zu protestieren« habe einen festen Platz in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Themen kommen und gehen, man ist und bleibt alternativ.
Legitimation durch Verfahren und Protest sind zwei widerstreitende und sich doch ergänzende Elemente unserer Ordnung. Die eigentümliche Modernität der Bundesrepublik, ihr Wettbewerbsvorteil, besteht in dieser unwahrscheinlichen Kopplung. Das vergessen die Apokalyptiker der »Dagegenrepublik« ebenso wie diejenigen, die ihre Bedenken gegen einen Bahnhof als »Widerstand« und Aufstand des Gewissens inszenieren. Der Protest kann eine Art Immunfunktion haben, mit der sich die Gesellschaft Schäden vor Augen führt, die gerade durch das Funktionieren ihrer Systeme entstehen: Wenn die Wirtschaft zwar rund läuft, aber eben dabei ihre Umwelt verfrühstückt, oder wenn die Politik Entscheidungen trifft, die zwar korrekt sind, aber doch die Ressource Vertrauen aufzehren. Der Protest, sagt Luhmann bei aller skeptischen Kühle, hat »auch einen Frühwarneffekt«.
So wie gerade das erfolgreiche System den Protest gegen seine Funktionen hervorbringt, führt der erfolgreiche Protest oft zu einem widerstandsfähigeren System. Das ist eine Ironie, die sich für manchen gewohnten Protestler allerdings eher wie Tragik anfühlt: Manchmal ist der Erfolg des Protests von seinem Scheitern schwer zu unterscheiden. In Stuttgart hat der Protest die Legitimation durch Verfahren nicht ersetzt, sondern bloß verfeinert. Der Widerstand hat sogar ein neues Verfahren hervorgebracht: die öffentliche Schlichtung. Legitimation durch unerbittliche Nettigkeit – Luhmann hätte es gefallen. Demnächst auch in Ihrer Stadt, liebe Leser.