(Mein Text aus der ZEIT dieser Woche.)
In der neuen Serie von David Simon, dem wohl größten Erzähler des zeitgenössischen Fernsehens, geht es wieder um eine Stadt. In dem Polizei-Drama „The Wire“ – das Simon zur Legende gemacht hat – war das arme Baltimore, geschlagen mit Drogen, Korruption und Verbrechen, die eigentliche Heldin. So diesmal New Orleans, genauer gesagt Treme (Tre-mäy gesprochen), das älteste schwarze Viertel Amerikas, ganz nahe am berühmten French Quarter gelegen. Der Jazz, die erste genuin amerikanische Kunst, Amerikas Geschenk an die Weltkultur, hat dort seine tiefsten Wurzeln.
Es geht aber um mehr als New Orleans, so tief Simon auch diesmal wieder in lokale Szenen eintaucht. Obwohl es gewiss die untypischste Stadt des Landes ist, firmiert New Orleans hier paradoxer Weise als die amerikanische Stadt schlechthin, samt Hoffnung, Fluch und Versprechen. „Kleinstadtwerte helfen uns nicht weiter“, hat Simon kürzlich gesagt, „wir brauchen Großstadtwerte… New Orleans war Französisch, Spanisch, Amerikanisch, die Musiker von dort nahmen afrikanische Rythmen und europäische Arrangements und schenkten dies der Welt… Das Konzept der amerikanischen Stadt – mit all diesen unterschiedlichen Kulturen, das ist es, was wir der Welt gegeben haben.“
Clarke Peters als Albert Lambreaux in seinem Mardi-Gras-Kostüm Foto: HBO
Nun ist die Stadt allerdings lebensgefährlich verwundet, als die Handlung beginnt – im Winter 2005, wenige Monate nach dem Hurricane Katrina. Der elegante Vorspann macht schon klar, dass Simons Kunst aus dem Verfall erblüht. Wenn man genauer hinsieht, erkennt man, dass die wunderbar eleganten, abstrakten Muster auf den Wänden der Häuser in Wahrheit Schimmelpilze und Reste vom Schlamm sind.
Wir finden uns unmittelbar unter den Überlebenden der Katastrophe. David Simon wirft uns unter die Musiker, Lebenskünstler, Discjockeys, Handwerker, Barfrauen, Anwälte und Arbeitslosen, die ihr Leben über die Folgen des Sturms hinweg zu retten versuchen. Manche würden besser daran tun zu gehen, doch keinem fällt es leicht, diese Stadt aufzugeben. Nicht allen wird das Bleiben gut bekommen, das ahnt man gleich.
Jede der Hauptfiguren trägt eine Frage mit sich herum. Wird Antoine Batiste (gespielt von dem großen Wendell Pierce, einem gebürtigen New Orleanian, der in „Wire“ der Polizist Bunk Moreland war) jemals von seiner Musik leben können? Kann seine Ex-Frau LaDonna (die schöne und strenge Khandi Alexander) ihren Bruder aufspüren, der während der Flut im Polizeigewahrsam war und nie wieder auftauchte? Kann Albert Lambreaux (Clarke Peters), „Häuptling“ eines traditionellen Mardi-Gras-Indianerstamms, seine Leute dazu bringen zu bleiben und bei der Parade mitzumachen? Wird Creighton Bernette (John Goodman), der wütende und depressive Englischprofessor, endlich seinen Schlüsselroman über die Flut von 1927 zu Ende schreiben? Wird sich die schöne Geigerin Annie (Lucia Micarelli) von ihrem Straßenmusikpartner Sonnie trennen, der wieder mit den Drogen angefangen hat? Diese und noch viel mehr Geschichten sind auf eine lose, an Robert Altman erinnernde Weise, verwoben. Und die Musik der Stadt ist der Webfaden.
Keine andere Serie hat so viel großartige Musik – kein Wunder bei dem Handlungsort. Die Musik wird nie nur zur Untermalung benutzt. Sie ist – oft live gespielt – organischer Teil der Handlung. Dr. John, Allen Toussaint, Kermit Ruffins, Steve Earle, McCoy Tyner und Elvis Costello und andere echte Stars treten in Gastrollen auf. Viele Figuren sprechen einen starken Dialekt und benutzen Insider-Begriffe wie „second line“ und „lower nine“, die nicht erklärt werden. Man muss sich eine Weile lang einhören in den Sound von Treme.
Diese zunächst abweisende Erzählweise hat einen Grund im kompromisslosen Realismus, den Simon-Fans schätzen. Er passt aber auch zu New Orleans, das hinter der touristischen Fassade immer eine unzugängliche Seite bewahrt hat. Nur durch Widerborstigkeit konnten französische Sprache, afrikanische Riten und schwarze Hipness vor dem Ausverkauf bewahrt werden. Nichts zu erklären ist aber schließlich auch ein Kunstgriff: Beim Zuschauer verstärkt er das Gefühl, man werde zum Zeugen einer realen Geschichte. Großartig, dass Drehbücher von solcher Schroffheit in Amerikas Kabelfernsehen nicht zuschauerfreundlich totredigiert werden. So wird das Fernsehen zur Kunstform, in der jene ein Exil finden, denen Hollywood zu langweilig, zu flach, zu unpolitisch ist.
David Simon ist (neben Ken Loach) der wütendste politische Filmemacher dieser Tage. Seine Weltsicht lässt sich im deutschen Koordinatensystem als vitaler Linkspopulismus verstehen: korrupte Eliten, kaputte Institutionen, eine verlogene öffentliche Moral, kleine Leute ohne Lobby bevölkern seine Welt. Es ist offenbar ein Vorurteil, dass man daraus keine große Kunst machen kann. Das kann man eben doch, wenn man diese Welt mit dem Reporterblick anschaut, den der gelernte Journalist Simon (er war Polizeireporter bei der Baltimore Sun) nie abgelegt hat.
Simon leidet an der Selbstzerstörung Amerikas, von der alle seine Serien erzählen. Aber er lässt seine Wut nie einer guten Geschichte in die Quere kommen. Auch in Treme geht es ihm nicht um die politische Anklage. Er hält sich nicht lange damit auf, dass Präsident Bush und seine inkompetente Regierung das Natur-Desaster erst zur Katastrophe haben auswachsen lassen. Treme erklärt nicht, warum New Orleans beinahe zerstört wurde (so wie The Wire die Zerstörung Baltimores auf allen institutionellen Ebenen rekonstruierte). Simon ist für einen solchen analytischen Zugang zu verliebt in New Orleans. Und so handelt Treme von den Versuchen vieler einzelner, das Versprechen dieser Stadt aus dem Schlamm und dem Schimmel zu bergen.
So klingt es allerdings ein wenig zu kitschig. Die städtische Utopie von New Orleans zu retten, das kann in Treme nämlich nur ganz konkret geschehen: durch kreolische Küche, ein unvergessliches Zydeco-Konzert, einen umwerfendes Mardi-Gras-Kostüm aus lauter gelben Federn. Oder, in den unsterblichen Worten von Dr. John: makin‘ whoopee.