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Warum Scharia und Islamismus nicht dasselbe sind

 

Reuel Marc Gerecht, einer der prominentesten neokonservativen intellektuellen in der außenpolitischen Debatte der USA, plädiert für ein diffenrenziertes Verständnis der Scharia. Der ehemalige CIA-Mitarbeiter (Spezialität Iran) glaubt, dass die Gläubigen im Kampf gegen den Dschihadismus eine entscheidende Rolle spielen:

„Wenn also Europäer oder Amerikaner in bester Absicht suggerieren, die Scharia sei das Fundament des radikalen Islamismus, dann signalisieren sie automatisch allen, auch den säkularisierten Muslimen, dass der Westen sie für irgendwie gestört hält und dass die einzig akzeptable Alternative eine Abkehr vom Glauben sei. Gläubige oder nur traditionelle Muslime sollen zu Spiegelbildern der areligiösen Westler werden. Ein wie auch immer gearteter Stolz, den Muslime auf ihre religiösen Gesetze hegen, wird von solchen Pauschalisierungen achtlos verletzt.

Eine solche Pauschalverurteilung der Scharia führt auch dazu, dass einer der meistverehrten schiitischen Vordenker der islamischen Welt, der irakische Großayatollah Ali Sistani, als bigotter Unterstützer des islamistischen Terrorismus verstanden wird, obgleich er sich unbeirrbar und mit größtem Engagement dafür einsetzt, dass der Irak nicht vollends in mörderischem Chaos versinkt. Das Gleiche gilt für den 2009 verstorbenen Großayatollah Ali Montazeri: Er war spiritueller Anführer der Grünen Bewegung im Iran und Nemesis des obersten iranischen Rechtsgelehrten Ali Khamenei, der wiederum selbst nur ein ziemlich mittelmäßiger Kenner der Scharia ist.

Es stimmt, dass die Scharia in ihrer konkreten Anwendung oft als Instrument hässlichster Unterdrückung vor allem von Frauen missbraucht wird. Der Westen und vor allem die Europäer haben vollkommen Recht, wenn sie sich gegen den Import von Scharia-Gesetzen in ihre Gesellschaften wehren. Grundsätzlich können wir nur hoffen, dass die progressiven muslimischen Rechtsgelehrten, die ihre Blütezeit im 19. Jahrhundert erlebten, wieder an Einfluss gewinnen. Doch wir sollten nicht den intellektuellen und historischen Fehler begehen, selbst die unbeugsamsten Vertreter einer konservativen islamischen Geistlichkeit als Handlanger des islamistischen Terrorismus abzustempeln. Das Phänomen des islamistischen Terrorismus wird wohl am ehesten dann verschwinden, wenn eine muslimische Geistlichkeit endlich unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hat, dass die Ablehnung westlicher Werte und eines westlichen „Kulturimperialismus“ keine Gewalt rechtfertigt.

(…)

Dass wir die innere Zerrissenheit des Islams missverstehen und fälschlicherweise in der Scharia und ihren Hütern unsere ärgsten Feinde sehen, ist nicht einmal der größte Fehler einiger Rechtskonservativer. Viele von ihnen – aber auch viele Liberale – verkennen die ungebrochene Dominanz der westlichen, vor allem der amerikanischen Kultur in der muslimischen Welt. Vom Untergang der USA zu sprechen mag zwar derzeit im Westen ganz im Trend liegen. Doch die Methoden von Osama Bin Laden und seinen Anhängern zeigen doch gerade, dass wir, also der Westen, den Kampf um die Menschen in der muslimischen Welt noch nicht verloren haben. Für Muslime, die das Weltgeschehen per Fernsehen oder Internet verfolgen, verkörpern wir immer noch gleichzeitig Hoffnung und Hölle. Khomenei drückte es einmal so aus: Der Westen sei der große Satan, weil er gute muslimische Männer und vor allem Frauen verführe und vom tugendhaften Pfad abbringe.

Die iranischen Nuklearambitionen und das entschlossene Missionieren der Muslimbruderschaft im Nahen Osten und in den muslimischen Einwanderergesellschaften im Westen sind ein Versuch, der „Verführung durch den Westen“ etwas entgegenzusetzen. Doch die traumatische Verwestlichung des Islams hält an. Sie hat die islamische Revolution im Iran und Osama Bin Laden hervorgebracht. Aber sie hat auch, und zwar mit voller Wucht, den Wunsch der Muslime – und auch hier: vor allem der muslimischen Frauen – nach Demokratie und Wohlstand geweckt. Es besteht also Hoffnung, dass die Übergangsphase des Islams weniger blutig ausfällt als unsere eigene, auch wenn wir mit dem Schlimmsten rechnen sollten.

Wir sollten keine Feinde dort sehen, wo keine sind. Das Heilige Gesetz des Islams ist und war schon immer das, was Muslime daraus machen. In der fundamentalen innerislamischen Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern der Moderne wäre es töricht, die Geistlichen zur Bedrohung zu erklären. Sie werden, wie sie es immer getan haben, den Weg einschlagen, den sich der Großteil der Muslime wünscht. Der Westen und die Muslime mögen zwar (noch) nicht unbedingt viele Wertvorstellungen teilen. Aber sie teilen ausreichend viele, um auf eine gewalttätige Auseinandersetzung verzichten zu können und eine vielleicht von Misstrauen gekennzeichnete, oft angespannte, aber insgesamt friedliche Koexistenz aufrechtzuerhalten.“

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