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Ein islamistisches Ägypten?

 

Vor 6 Wochen hatte ich hier die These vertreten, dass die arabische Demokratie notwendiger Weise islam(ist)isch wird. Jetzt sehe ich mich vorläufig bestätigt durch das sich abzeichnende Ergebnis der ägyptischen Wahlen.

Etwas mehr bestätigt, als es mir lieb ist, offen gesagt. Nicht nur die sich abzeichnenden 40 Prozent für die Muslimbrüder, vor allem das voraussichtlich gute Abschneiden der Salafisten spricht dafür, dass die Islamisten jetzt in den arabischen Ländern einfach mal dran sind. Sie werden schon allein deshalb gewählt, weil sie die glaubwürdigsten Anti-System-Parteien sind, (noch) unkorrupt (weil sie keinen Zugang zu den Ressourcen hatten), umstrahlt vom Glorienkranz des Märtyrertums in den Zeiten der Diktatur.

Die interessante Frage ist, was passiert, wenn sie nun reale Politik machen sollen. „Der Islam ist die Lösung“ zu rufen ist ja nicht gerade abendfüllend. Und auch das bewährte Gefuchtel mit identitätsstiftenden Leib- und Magenthemen von der Scharia bis zu Israel macht niemanden satt und schafft keinen Job. Was nicht heißt, dass man mit dergleichen keine Chancen auf Mehrheiten hat. Denkbar ist, dass nun gerade die Identitätsthemen in den Vordergrund drängen, dass es ein großes islamistisches Aufwallen gibt – nun, da man endlich am Drücker ist. Für Frauen, für religiöse Minderheiten, für säkular und liberal gesinnte Menschen könnten harte Zeiten anbrechen.

Ed Husain, dessen Buch über seine eigenen Erfahrungen in der islamistischen Szene (Hizb-ut Tahrir, MB) ein Klassiker ist (The Islamist), beobachtet Ägypten mit zunehmender Sorge. Er hat jetzt in einer sehr interessanten Kolumne für die Herald Tribune von seinen Gesprächen mit Muslimbrüdern in Ägypten berichtet:

In coming months, not only in Egypt but in other countries across the region, the war of ideas between liberal secularists and Islamists will rage about their visions for how to succeed the fallen, secular dictatorships. But what does an Islamic state look like? What does it mean in real terms for countries such as Egypt, Libya or Tunisia?

I went to Egypt after the revolution to put these questions to leaders of the Muslim Brotherhood. Many had served prison sentences for their cause. I spoke with old-school hard-liners within the Brotherhood, such as the 83-year-old former leader, Mehdi Akef. I also spoke with the renowned liberal Abdel Moneim Abou el-Fotouh (now an independent presidential candidate in Egypt). I met with younger members of the Brotherhood, and its parliamentarians, such as Mohammad El-Beltagy.

I asked each of them, “What is an Islamic state?” The answers differed widely. For Akef, it was about Shariah becoming state law; for Abou el-Fotouh it was vaguely about social justice; for Beltagy it was responding to the needs of the people. For younger members, it was a liberal state reflective of Islamic values. When pressed, however, none of them could articulate what this new society might look like.

In some ways, this is good news, because it means some Islamists are open to persuasion and influence. In other ways, I thought, it was this very intellectual inconsistency that had led me to leave the Islamic movement; this incoherent and muddled worldview for which they expected me and other members to give their lives. Like Marxists, they had all sorts of criticism of state and society, but when pressed to provide policies for alleviating poverty in Egypt, they had no answers. To my mind, they were clutching at straws, because Islam has no specific prescription for government.

Husain, der sich vom Islamismus losgesagt hat, bleibt bekennender Muslim. Er hat die Vorstellung, dass man Scharia auch anders verstehen kann denn als Umsetzung archaischer Familiengesetze und Strafvorschriften in der heutigen Zeit.

I raised with Abou el-Fotouh the 800-year-old debate within Islam about what are called the maqasid, or aims, of the Shariah, which are to preserve life, property, religious freedom, family and knowledge. The Shariah is not about stoning and killing, I argued, but about the preservation of these five things. (…)

What stops today’s Arab Islamists from taking this approach to an Islamic state instead of advocating outdated, cruel punishments and the denial of rights to women?

I know from my time inside the Muslim Brotherhood that it spent five decades trying to survive, to escape the crackdowns of military dictatorships in the Arab world. Its members have not had the time and leisure to develop in the real world. Where they have — for example in Turkey — they have tended to become centrists and realists.

Nun ist die Lage in Ägypten aber anders als in der Türkei. Die Türkei hat ein Militär, das sich als Hüter der Republik versteht (selbst bei seinen Putschen) und sich zugunsten der zivilen Herrschaft zurückzuziehen bereit war. Die Modernität der Türkei beruht auf der Modernisierung und Säkularisierung von oben durch das Militär sowie auf der ökonomischen Liberalisierung in Kombination mit behutsamer Re-Islamisierung, beginnend unter dem Ministerpräsidenten Turgut Özal. Die AKP Erdogans hat die Früchte dieser Reformpolitik geerntet und diese Politik fortgesetzt. Es gab schon ein türkisches Erfolgsmodell, als die islamisch geprägte AKP an die Macht kam. Sie hat, auch unter dem Sog der EU-Beitrittsperspektive, den Özalschen Modernisierungskurs beibehalten und forciert. Das Militär ließ sich, wenn auch der „tiefe Staat“ weiter dagegenhält, mehr und mehr zurückdrängen.

Ägypten hat kein bereits erfolgreiches Modernisierungsmodell, das die Islamisten variieren könnten. Das Militär ist Teil der Kleptokratie, mit enormen wirtschaftlichen Interessen. Die ägyptischen Islamisten sind in weiten Teilen wesentlich radikaler als die türkischen, bei denen auch diverse Sufi-Orden eine große Rolle spielen. Einen „islamischen Calvinismus“, wie er bei vielen Unternehmern in der Türkei gegeben ist, sucht man in Ägypten vergebens. Und nun sind die Muslimbrüder auch noch durch die erstaunlich starken Salafisten von rechts her getrieben. Das macht es in meinen Augen eher unwahrscheinlich, dass wir in absehbarer Zeit eine starke Wirkung des türkischen Modells auf die ägyptischen Islamisten erwarten können.

Dennoch sollte gerade diese Entwicklung ein Mahnruf sein – auch an die deutsche Politik -, zu erkennen, welch eine Chance darin liegt, dass die Türkei ein erfolgreiches Modell der Versöhnung von islamisch geprägter Politik und säkularer Demokratie ist. Bei allen beunruhigenden Entwicklungen in der Türkei (Verhaftungen von Journalisten, Kujonierung von unliebsamen Verlagen): Der Westen braucht eine offensive und aktive Türkeipolitik jenseits der leidigen Beitrittsfrage. Zum Glück beginnen das in der CDU langsam auch jene Außenpolitiker zu kapieren, die einem EU-Beitritt nach wie vor skeptisch gegenüberstehen. Die Türkei macht Druck auf Syrien, die Türkei wendet sich von Iran ab (s. Raketenabwehr), sie ist ein wichtiger Spieler in der arabischen Welt und ein Wachstumsmotor der Region. Gegenüber den Bärtigen, die jetzt in Arabien an die Macht drängen, ist sie ein Beispiel dafür, dass auch ein mittlerer Weg möglich ist.

Husain schreibt:

With time, the Islamists, too, can be steered toward a Turkey-style combination of Islam and secular democracy.

Die Frage ist nur, wieviel Zeit hat Ägypten?