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Warum Deutschland sich einmischen muss

 

Gerhart Baum, Bundesinnenminister a.D.,  antwortet auf Eberhard Sandschneiders Debattenbeitrag in unserer Reihe über Außenpolitik und Menschenrechte. Baum wurde 1932 in Dresden geboren, floh 1945 nach der Zerstörung der Stadt nach Bayern und lebt seit 1950 in Köln. Seit 1954 ist er in der FDP, für die er seit 1972 im Bundestag ist. 1978-1982 war er Inneminister im Kabinett Schmidt. 1992-1998 war er Leiter der deutschen Delegation bei der Uno-Menschenrechtskomission in Genf. 2001-2003 Uno-Sonderberichterstatter für Menschenrechte im Sudan.

Es ist schon verwunderlich, ausgerechnet von Eberhard Sandschneider, dem Leiter des -Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, das abgestandene Argument zu lesen, bei den Menschenrechten handele es sich um »Moral- und Wertvorstellungen des Westens«. Niemand diktiert der Welt ihre Werte – weder der Westen noch die deutsche Außenpolitik. Die Werte wurden in einem beispiellosen historischen Akt 1949 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen niedergelegt. Das war eine Reaktion auf die Schrecken der ersten Hälfte des dunklen 20. Jahrhunderts. In der Präambel heißt es: »Die Verkennung und Missachtung der Menschenrechte hat zu Akten der Barbarei geführt, die das Gewissen der Menschheit tief verletzt haben.«

Artikel 1 der Erklärung lautet: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.« Niemals zuvor hat es eine solche Selbstverpflichtung der Völkergemeinschaft gegeben. Sie folgt der Erkenntnis vom unvergleichlichen Wert eines jeden Menschen. »Die Menschenwürde bildet das Portal, durch das der egalitär-universalistische Gehalt der Moral ins Recht transportiert wird«, so erklärt Jürgen Habermas diese Entwicklung. Ist das die »Moral-ecke«, aus der Sandschneider eine an den Menschenrechten orientierte Außenpolitik herausholen will?

Die Menschenrechte haben neben der westlichen Tradition ihre Wurzeln in allen hochstehenden Kulturen und Religionen der Welt. Nirgendwo wird gebilligt, dass Menschen zur Sicherung staatlicher Macht entwürdigt, gar gefoltert oder totgeschlagen werden. Nirgendwo wird akzeptiert, dass jemand auf einer Polizeistation so gequält wird, dass er nur mit Mühe überlebt – wie das einem chinesischen Künstler widerfahren ist.

Die Weltmenschenrechtskonferenz vor 20 Jahren in Wien hat die Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte, wie sie 1949 festgelegt worden war, mit einem einstimmigen Votum erneut bekräftigt. Die deutsche Delegation wurde von mir, die französische von Stéphane Hessel geleitet. In wenigen Wochen erinnern Menschenrechtsorganisationen und auch das Auswärtige Amt in Berlin mit verschiedenen Veranstaltungen an diese wegweisende Konferenz.

Im Laufe der Jahrzehnte haben nahezu alle Staaten der Welt die wichtigsten Vereinbarungen des Völkerrechts zum Menschenrechtsschutz akzeptiert. Wer behauptet, es handele sich allein um Moral- und Wertvorstellungen des Westens, spielt den diktatorischen Regierungen in die Hände, die ihre Unterdrückungsmaßnahmen gern mit Hinweis auf kulturelle Unterschiede zu rechtfertigen suchen. Sicherlich gilt es kulturelle Unterschiede zu beachten, am Kern der Menschenrechte darf jedoch nicht gerüttelt werden.

Die Menschenwürde bestimmt auch unsere Verfassung. Sie ist im Innern eine einklagbare Verpflichtung, aber sie hat auch eine außenpolitische Dimension: In den internationalen Beziehungen sind die deutschen Politiker gemäß Artikel 1 angehalten, sich für die Menschenwürde einzusetzen.

Menschenrechtspolitik bedeutet immer Einmischung. Das System der Vereinten Nationen liefert die völkerrechtlichen Grundlagen dazu. Wer das Gegenteil behauptet, verkennt die jahrzehntelange Praxis der UN. Es gibt kein Gebot der Nicht-Einmischung. Einmischung ist die Regel.

In jeder seiner Sitzungen bewertet der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in Genf die Menschenrechtsituation in einzelnen Staaten. Das tut auch die Delegation der Bundesrepublik Deutschland. Ich selbst war von 1990 bis 1993 Sonderberichterstatter für die Menschenrechtssituation im Sudan. Meine Feststellungen führten zu Rügen und Empfehlungen durch die UN-Gremien. Massiv ist die Einmischung durch den Sicherheitsrat mit über 80 Friedensmissionen, darunter auch solchen mit robustem Mandat – also mit Waffengewalt – gegen den Willen der betroffenen Staaten. Einmischung bedeuten auch die Entscheidungen des Internationalen Strafgerichtshofes, wenn er beispielsweise nach dem amtierenden Staatspräsidenten des Sudan und nach Söldnerführern im Kongo mit Haftbefehl fahndet.

Bei den großen Menschenrechtskatastrophen in Ruanda, Kambodscha oder im früheren Jugoslawien (Srebenica) kam die Einmischung gar nicht oder zu spät. In Libyen erfolgte die Intervention – durch Anwendung der neuen UN-Doktrin zur »Schutzverantwortung« – gerade noch rechtzeitig. Mit dieser Doktrin, 2005 einstimmig von der Generalversammlung verabschiedet, übernimmt der Sicherheitsrat unter bestimmten Voraussetzungen den Schutz der Menschen – auch gegen die Regierung ihres eigenen Staates oder dort, wo es keine Staaten mehr gibt. Niemand wird leichtfertig für militärische Abenteuer eintreten. Doch die Politik der militärischen Zurückhaltung, wie sie von Außenminister Westerwelle im Falle Libyen und auch sonst vertreten wird, ist in bestimmten Situationen nicht durchzuhalten. Mit der Enthaltung zu Libyen hat unser Land sich auch gegenüber befreundeten Regierungen isoliert.

Menschenrechte bestimmen die Beziehungen der Völker untereinander nicht allein. Am überzeugendsten wurde dies in der Schlussakte von Helsinki von 1975 definiert. Menschenrechtsschutz tritt hier gleichberechtigt an die Seite von Friedensbemühungen und wirtschaftlichen Beziehungen. Die Schlussakte gab der Freiheitsbewegung Solidarność in Polen Motiva-tion, Schwung und Kraft. Sie war ein wichtiges Instrument bei der Auflösung der Diktaturen des Ostblocks.

Ich plädiere nicht dafür, die Gesprächs- und Verhandlungsbereitschaft mit anderen Ländern abreißen zu lassen oder Wirtschaftsbeziehungen als Mittel zur Durchsetzung der Menschenrechte einzusetzen, von wenigen Ausnahmen abgesehen – wie jetzt im Verhältnis zum Iran. Als würdelos allerdings habe ich immer empfunden, wenn Demokraten sich verbiegen und eigene Grund-überzeugungen in der Absicht verleugnen, Vertreter diktatorischer Staaten für Geschäftsabschlüsse zu gewinnen.

Belehrende Arroganz ist in der Außenpolitik fehl am Platze. Oft sind eher Rat und Hilfe gefragt. Friedensicherung liegt im wohlverstandenen Interesse unseres Landes. Sie ist aber ohne eine menschenrechtsorientierte Außenpolitik nicht zu erreichen.