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Was die Geschichte der Ostpolitik über den Umgang mit Diktaturen lehrt

 

Dieser Text, den ich zusammen mit Matthias Geis verfasst habe, erscheint in der ZEIT von heute – ein Versuch, die Debatte über Interessen und Werte in der deutschen Außenpolitik in einen historischen Kontext zu stellen:

Die drei Worte fallen ganz am Ende. Der Redner hat sie fett markiert. Er weiß schon, dass sie die Sprache der deutschen Außenpolitik verändern werden. Die Bundesrepublik müsse gegenüber Moskau einem neuen Leitgedanken folgen: statt Abgrenzung, Druck und Konfrontation – »Wandel durch Annäherung«.
Bald ist das fünfzig Jahre her. Am 15. Juli 1963 hielt Egon Bahr in Tutzing an der Evangelischen Akademie die Rede, die zur Grundlage der »Neuen Ostpolitik« Willy Brandts wurde. In seinen drei Worten schnurrte die Entspannungsphilosophie zusammen, der die sozialliberale Regierung Brandt/Scheel von 1969 an im Umgang mit der Sowjetunion und dem kommunistischen Ostblock folgte. Keine andere außenpolitische Idee der jüngeren deutschen Geschichte war so folgenreich.
Sie ist es bis heute: Die aktuelle Debatte über den richtigen Umgang mit Diktatoren und Gewalt-herrschern, über Werte und Interessen, Menschenrechte und Geschäfte ist ohne die Vorgeschichte der Entspannungspolitik nicht zu verstehen. Deutsche Außenpolitiker haben in Zeiten der Blockkonfrontation gelernt, wie man mit »schwierigen Partnern« umgeht. Bis heute stehen sie unter dem Bann dieser Zeit. Ihre diplomatischen Begriffe leiten sich daher ab – Varianten und Schwund-formen der Bahrschen Erfindung: Wandel durch Handel, Wandel durch Verflechtung, Modernisierungspartnerschaft.
Was mussten Brandt und Bahr sich von konservativen Politikern nicht für böswillige Angriffe gefallen lassen – Verfassungsbruch, Ausverkauf deutscher Interessen, ja selbst Landesverrat. Erst in den Neunzigern hat sich überall die Einsicht durch-gesetzt, dass es auch die Neue Ostpolitik war – von den Kanzlern Schmidt und Kohl fortgesetzt–, die den Kalten Krieg überwand, die Mauer durchlöcherte und die Wiedervereinigung ermöglichte.
Heute wollen alle die Idee beerben. Allerdings findet dabei eine klammheimliche Umdeutung statt. Die beiden Elemente werden entkoppelt: An der Annäherung wird festgehalten, selbst wenn kein Wandel in Sicht ist, ja selbst noch dann, wenn einer zum Schlechteren stattfindet. Bahrs Formel fällt verdächtigerweise immer dann, wenn be-gründet werden soll, warum eine offensichtliche Demütigung, ein Vertragsbruch, eine Menschenrechtsverletzung durch einen Partner ohne Konsequenzen bleibt. Eine ursprünglich trickreich-subversive Idee ist in Gefahr, zum Alibi zu werden.
So etwa, wenn Außenminister Guido Westerwelle erklärt, warum man mit Russland trotz Razzien in deutschen Stiftungen unverändert weiter auf Dialog-Programme setzt: »Wandel ist nur über weitere Annäherung und Hinwendung möglich.« Als die Chinesen vor einigen Jahren ein Delega-tionsmitglied Westerwelles, den Schriftsteller Tilman Spengler, zur Persona non grata erklärten, flog er trotzdem hin und erklärte auch dies mit Bahrs Formel. Die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung in Moskau beschwört die Notwendigkeit einer Partnerschaft mit Putins und Medwedews Regime allen Rückschritten zum Trotz unter der Überschrift »Wandel durch Annäherung«. Ganz gleich, ob es um Gasgeschäfte mit Aserbaidschan, Panzer für Saudi-Arabien oder um Dialog mit der ägyptischen Muslimbruderschaft geht – für alles muss Bahrs Slogan herhalten.
An der Banalisierung des Konzepts beteiligen sich Sozialdemokraten an vorderster Stelle. Sie neigen besonders dazu, gegen einen angeblichen Moralismus in der deutschen Außenpolitik zu Felde zu ziehen: so etwa, wenn Frank-Walter Steinmeier heute vor der »Unsitte moralisch überhöhter Schwarz-Weiß-Malerei« warnt und wenn Peer Steinbrück mahnt, »dass unsere westlichen Maßstäbe pluraler Demokratie nicht unmittelbar auf Russland übertragbar sind« und Kritik »nicht auf dem Marktplatz« stattfinden solle, damit wir uns »Zugänge« zu den Herrschern nicht verstellten.
So wird das außenpolitische Erbe der Partei auf machtorientierte Realpolitik verkürzt – und es entsteht ein extrem reduziertes Bild dessen, was die Entspannungspolitik war und wollte. Es gleicht erstaunlich der Karikatur, die in den ideologischen Schlachten der Sechziger und Siebziger von ihren konservativen Gegnern gezeichnet wurde: gute Beziehungen zum Kreml und Politbüro um jeden Preis, auch wenn Menschen- und Bürgerrechte hintanstehen. Veränderungen können sich nur von innen ergeben. Und wenn nicht, dann kann man halt nichts machen.
Soll das alles gewesen sein? Offenbar muss man die Ostpolitik heute kaum mehr gegen ihre Gegner, wohl aber gegen ihre Freunde verteidigen.
Bahr hatte nämlich nicht Raushalten, Resignie-ren und Weitermachen im Sinn, wie der heutige Gebrauch seiner Formel suggeriert. Im Gegenteil: Es ging darum, Deutschland im Kalten Krieg überhaupt erst wieder politikfähig zu machen. Die Teilung Berlins, die Konfrontation der beiden deutschen Staaten als Vorposten der feindlichen Blöcke und die eklatante Unfähigkeit der Bonner Außenpolitik, auf diese zentralen Probleme der Nation Antworten geben zu können – das alles bildete den Erfahrungshintergrund.
Die Bundesrepublik war durch Konrad Adenauer im Westen angekommen. Seine »Ostpolitik« beschränkte sich auf die Ablehnung der sozialis-tischen Regime in Mittel- und Osteuropa, das -Bekenntnis zur Einheit der Nation und die chancenlose Forderung nach freiheitlichen, demokratischen Lebensverhältnissen für alle Deutschen. Bonn konnte das Schicksal der Brüder und Schwestern im Osten beklagen, Einfluss darauf nehmen konnte man nicht.
Diese Politik war offensichtlich heuchlerisch. Bahr und Brandt traten dagegen an mit dem kühlen Pathos der Wahrhaftigkeit: Weg mit den hohlen Phrasen, der Schönrednerei, den Lebenslügen einer Außenpolitik, die sich zwar patriotisch aufblähte, doch de facto den Gewaltherrschern im Osten in die Hände spielte, weil sie die Verhältnisse nicht anzurühren wagte.
Willy Brandt, der zum Vorkämpfer einer neuen deutschen Ost- und Entspannungspolitik wurde, hatte als Berliner Bürgermeister den Mauerbau erlebt und erlitten. Er war empört über die brutalen Maßnahmen des Ostens und doch ohne jeden Einfluss auf dessen Entscheidungen. Dieses Missverhältnis erzwang einen neuen politischen Ansatz, dem Egon Bahr das zündende Etikett verpasste.
Das Kalkül dieses Ansatzes lautete, auf die Gegenseite zuzugehen, Vertrauen aufzubauen, gemeinsame Interessen zu definieren, um im Zuge dieser Annäherung nicht nur einen Wandel in den Beziehungen selbst, sondern auch einen Wandel der Lebensverhältnisse im Osten zu erreichen. Es begann mit Besuchserleichterungen innerhalb der geteilten Stadt und zwischen den beiden deutschen Staaten; aber zu den großen entspannungspolitischen Hoffnungen gehörte, dass der Wandel irgendwann auch die Liberalisierung des Systems und, wer weiß, am Ende vielleicht auch die deutsche Einheit bringen würde.
Das war mit einer enormen Zumutung verbunden. Denn der Entspannungspolitiker muss Deals mit jenen machen, deren Herrschaftssystem er verachtet und deren konkrete Politik ihn empört. Er muss Gegner in Verhandlungspartner verwandeln. Das Paradox hat Bahr später so formuliert: Den Status quo anerkennen, um ihn zu verändern.
Mit diesem Ansatz gelang es Brandt und Bahr innerhalb einer unerhört kurzen Zeitspanne zwischen 1969 und 1972, das Nichtverhältnis zwischen Westdeutschland, der DDR und den osteuropäischen Staaten aufzulösen und die Beziehungen in einer Serie von Verträgen mit Moskau, Warschau, Prag und Ost-Berlin neu zu definieren.
Allerdings ging es nicht an erster Stelle um den Systemwandel des Ostblocks, sondern um die Verhinderung der atomaren Eskalation. »Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts«, dieser Satz Brandts hatte seine Berechtigung, weil damals jenseits des Friedens die Selbstvernichtung drohte. Aus dieser Konstellation erwuchs jedoch auch das Risiko des entspannungspolitischen Ansatzes. Zur gemeinsamen Wahrung des Friedens bedurfte es möglichst berechenbarer Partner. So geriet die innere Stabilität der sozialistischen Herrschaft selbst zum Garanten des entspannungspolitischen Prozesses.
Äußerst klamm reagierte die Bundesregierung Anfang der achtziger Jahre auf die Solidarność-Bewegung in Polen, die als revolutionärer, also destabilisierender Faktor in den gemeinsamen Beziehungen gesehen wurde. Die Politik, die auf dialektischem Wege den Wandel hatte herbeiführen wollen, verlor den Wandel selbst aus dem Auge. Auch im deutsch-deutschen Verhältnis schien in den achtziger Jahren die Pflege der guten Beziehungen so wichtig, dass der Westen die Erosion des SED-Regimes nicht wahrnahm und von seiner Im-plo-sion völlig überrascht wurde. Dass in der SPD die entspannungspolitischen Nachfahren Brandts noch 1987 den Dialog mit der SED intensivieren wollten, ist vielleicht das peinlichste Beispiel dafür, wie eine selbstgenügsame Entspannungspolitik die gesellschaftlichen Entwicklungen aus dem Blick verlor. In jahrelangem Dialog zwischen der Grundwertekommission der SPD und der »Akademie« beim ZK der SED war ein gemeinsames Papier entstanden, in dem behauptet wurde, dass »beide Systeme reformfähig seien«, »beide das humanistische Erbe Europas weitertragen« und man sich »auf einen langen Zeitraum einrichten« müsse, in dem »produktiver Wettbewerb« herrschen werde. Bahr hatte in Tutzing noch aus der Gewissheit gesprochen, dass die westliche Welt »die bessere ist, die sich durchsetzen wird«. Nun gab die SPD der DDR eine Ewigkeitsgarantie und bescheinigte ihr gemeinsame Grundwerte, und das in ihrer autoritären Verfallsphase. Bahrs Formel war auf den Kopf gestellt: Annäherung zum Zweck der Anverwandlung.
Das hat Bundespräsident Joachim Gauck vor Augen, der diese Entwicklungen von der anderen Seite der Mauer aus beobachten konnte. Neulich hat er in einer Rede in Straßburg beim Europarat daran erinnert, dass sich »schon in den siebziger und achtziger Jahren Deutschland und andere westeuropäische Länder oft schwer(taten) mit der offenen Benennung von Menschenrechtsverletzungen im Osten Europas, weil sie damit den ›Wandel durch Annäherung‹ gefährdet sahen.«
Gleichwohl hat die Entspannungspolitik Voraussetzungen geschaffen, die den Zusammenbruch des sozialistischen Imperiums möglich gemacht haben. Entscheidend waren dabei die jahrelangen Verhandlungen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die 1975 mit einem feierlichen Ost-West-Vertragsschluss in Helsinki zum Abschluss kam.
Der sowjetische Parteichef Breschnew hatte gehofft, mit dem KSZE-Prozess sein Imperium auf Dauer zu stellen. Die Anerkennung durch den Westen sollte die fehlende innere Legitimation kompensieren: Entspannung als Entmutigung der inneren Opposition. Doch der Westen verhandelte hartnäckig und gegen erbitterten Widerstand -Moskaus auch die Menschen- und Freiheitsrechte in das Abschlussdokument. Der »Korb I« des -Helsinki-Abkommens enthielt als Punkt 6 »Nichteinmischung in innere Angelegenheiten«. Als Punkt 7 folgte: »Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit«.
Die Kombination war entscheidend. Der Deal mit den Ostblock-Herrschern lautete: Ihr bekommt unsere Anerkennung nur, wenn ihr selber die Menschenrechte anerkennt. Für die osteuropäischen Dissidenten wurde dieses erpresste Bekenntnis der Regierenden zu universellen Rechten zum Hebel im Kampf gegen die Regime. Darauf bezog sich Joachim Gauck in seiner Straßburger Rede: »Für meine Generation hieß das rettende Stichwort damals Helsinki.«
Dass man dies kaum mehr sieht, daran hat die jüngste, gas- und ölgetriebene Phase der Ostpolitik ihren Anteil. Waren in den Siebzigern und Achtzigern nukleare Konfontation und deutsche Einheit der Antrieb, für Entspannung zu sorgen, so geriet mit der Regierung Schröder die Energiesicherheit zum Hauptmotiv, sich dem neuen Herrn im Kreml, Wladimir Putin, anzunähern.
Es hatte auch schon in der ersten Phase der Ostpolitik Gas- und Röhrengeschäfte gegeben. Immer mit einem doppelten Sinn: Sicherung der Versorgung für Deutschland und Anreiz zum politischen Wandel. Daran schlossen Gerhard Schröder und sein Berater Frank-Walter Steinmeier an, der später als Außenminister Russland eine »Modernisierungspartnerschaft« vorschlug: Wir helfen, eure Wirtschaft zu modernisieren, ihr liefert uns das Gas und öffnet eure Gesellschaft.
Doch als Russland Ende 2005 dem Gas-Transitland Ukraine und damit halb Europa den Hahn zudrehte, wurde offenbar, dass der Kreml Energieexporte als Waffe einer postimperialen Machtpolitik betrachtet. Schröder hielt das nicht davon ab, nach seiner Abwahl als Bundeskanzler mittelbar in die Dienste des halbstaatlichen Unternehmens Gazprom zu treten. Er stellte auch dies noch als Fortsetzung der Entspannungspolitik mit anderen Mitteln dar. Einen Wandel von Putins Regime fand Schröder dabei zwar nicht so wichtig (»lupenreiner Demokrat«), doch Annäherung trieb er weiter als jeder andere vor ihm. Und wenn Egon Bahr in seinem neuen Buch die Quintessenz der eigenen Politik zieht, schreibt er, es würden »andere jetzt neu lernen: Nicht Demokratie und Menschenrechte, nicht einmal die Freiheit, sondern der Frieden muss global der oberste Wert bleiben.«
Der Erfolg der Entspannungspolitik hat aber gerade gezeigt, dass Stabilität ohne Freiheiten und Rechte nicht von Dauer ist. Eine andere Lehre kann man so formulieren: Deals mit illegitimen und undemokratischen Herrschern sind unvermeidbar; aber man kann sie so gestalten, dass sie auf Öffnung und Transformation zielen. Selbstbewusste Außenpolitik muss sich zwischen Regime und Gesellschaft nicht entscheiden. Die Entspannungspolitik hat im Ostblock durch geschicktes Verhandeln mit den Herrschern das Erblühen der »Zivilgesellschaft« mit ermöglicht. Sie darf sich nicht von dieser abwenden, wenn sie beginnt, die Herrscher herauszufordern.
Sozialdemokraten müssen aufpassen, dass nicht ausgerechnet sie die hoffnungsvolle Erfahrung der Entspannungspolitik verraten: Es geht immer ein bisschen mehr, als die Machthaber uns glauben machen wollen.