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Staatsräson und Atom-Uboote

Was genau bedeutet eigentlich Angela Merkels Formel von der „Sicherheit Israels als Teil der deutschen Staatsräson“?

Um die Kanzlerin genauer zu zitieren:

Gerade an dieser Stelle sage ich ausdrücklich: Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.

Was bedeutet dies ganz konkret heute, exakt vier Jahre nach der Knesset-Rede? Der Kontext der Rede war damals schon – neben dem 60. Jahrestag der Gründung des Staates Israel – die Bedrohung durch den Iran, genauer gesagt sein vermutetes Atomwaffenprogramm. Aus Vermutungen sind unterdessen immer schwerer wiegende Verdächtigungen geworden, mit jedem IAEO-Bericht ein bisschen mehr.

Vielleicht muss man nicht allzu tief graben nach dem Sinn dieser Äußerung in der momentanen Lage. Eine mögliche Antwort liegt in Kiel im Dock, wie Haaretz berichtet:

According to the Israeli official, Barak will visit Germany on Tuesday and hold a series of meetings with Defense Minister de Maiziére, Foreign Minister Guido Westerwelle and German Chancellor Angela Merkel’s National Security Adviser Christoph Heusgen.

The signing ceremony will be held on Wednesday, attended also by the former Israeli ambassador to Germany, Yoram Ben Zeev, who has worked intensely over the past three years to promote the submarine deal. The new ambassador to Germany, veteran diplomat Yaakov Hadas, will also attend the ceremony. Hadas presented his credentials last week.

Israel’s submarine fleet, which numbers three German-made Dolphin vessels, is the navy’s long-range strategic arm. The German government financed most of the costs of the first three submarines.

According to foreign reports, the submarines are equipped with cruise missiles which have a range of 1,500 kilometers and can carry nuclear warheads. According to those reports, the submarine fleet enables Israel to deliver a „second blow“ in the case of a nuclear attack. The fleet also allows Israel to carry out intelligence-gathering missions far from its borders and to defend its territorial waters.

The construction of the fifth and sixths submarines in the German city of Kiel is almost complete, and they are scheduled to be delivered to the Israeli navy in 2013 and 2014 respectively. The two vessels are equipped with state-of-the-art systems that enable them to remain underwater for a longer period of time. A sixth submarine, scheduled to be delivered to Israel at least four years from now, will be even more advanced.

Deutschland stattet Israel mit atomwaffenfähigen U-Booten aus, die jeden iranischen Angriff zur einem Selbstmordkommando machen, weil sie Israels Zweitschlagsfähigkeit sichern. Deutschland zahlt auch im wesentlichen für diese U-Boote.  Morgen kommt der israelische Verteidigungsminister nach Deutschland und unterzeichnet den Vertrag. Die Rede von der Staatsräson war nicht so hohl, wie manche Kritiker suggerierten.

 

Israels wahre Gefahr: die Besatzung

Kürzlich traf ich in Jerusalem den Historiker Gershom Gorenberg. Ich hatte sein Buch „The Unmaking of Israel“ gelesen und war fasziniert. Es ist eine packende Schilderung des Siedlungsprojekts, das nach dem Sieg von 1967 begann, nicht nur die Westbank, sondern Israel zu verändern.  Es soll bald auch auf Deutsch erscheinen (Campus). Ich bat Gorenberg, ein Oped für die ZEIT zu schreiben. Hier ist es, aus der morgigen Ausgabe der ZEIT:

In den Medien scheint weltweit das Wort »Is­rael« derzeit unvermeidlich mit dem Wort »Iran« verbunden zu sein. Ungenannte ­»Quellen« und halb informierte Fachleute debattieren darüber, ob Israel die iranischen Atomanlagen bombardieren wird; ob die Vereinigten Staaten den israelischen Premier­minister Benjamin Netanjahu davon überzeugen können, seine Kampfflugzeuge am Boden zu lassen; ob der Iran bei einem Angriff Israels zurückschlagen würde; und ob Israels Abschreckungspotenzial den Iran abhalten würde, seine Atombombe tatsächlich einzusetzen – sofern es dem Land überhaupt gelingt, eine solche zu bauen.
Ich bin selbst Israeli und würde die Gefahr eines Krieges oder einer möglichen iranischen Atombewaffnung nicht herunterspielen. Doch meine Sorge ist, dass diese äußere Bedrohung Israels die öffentliche Aufmerksamkeit von der inneren Krise des Landes ablenkt. Denn was die Lebensfähigkeit Israels als Staat und seine demokratischen Ideale tatsächlich bedroht, ist die israelische Herrschaft über das Westjordanland. Netanjahu und seine Minister haben ­weder die Absicht noch den Mut, sich diesem Problem zu stellen. Darum bringt sie die all­gemeine Konzentration auf das Thema Iran in eine ungemein komfortable Lage.
Seit seiner Gründung hat sich Israels demokratische Ordnung als haltbarer erwiesen als die jedes anderen postkolonialen Staates. Einen Militärputsch oder eine zivile Diktatur hat das Land noch nie erlebt. Innerhalb der Grenzen des jüdischen Staates, so wie sie im Waffenstillstandsabkommen mit den arabischen Nachbarn von 1949 festgelegt wurden, haben die Angehörigen der arabischen Minderheit zwar Benachteiligungen erlitten, aber sie sind im Besitz der staatsbürgerlichen Rechte. Seit einer wegweisenden Entscheidung des Obersten Gerichtshofes 1953, die es der Regierung untersagte, Zeitungen aufgrund der in ihnen geäußerten Ansichten zu schließen, schützt die zupackende Justiz die Prinzipien des Rechtsstaates vor den Launen der Exekutive. Sie hat auch den Status der Menschenrechte kontinuierlich ausgeweitet.
Im Rückblick jedoch wird klar, dass der Sechstagekrieg vom Juni 1967 Israels politischen Kurs verändert hat. Der militärische Sieg in einem Konflikt, der nicht geplant war, sicherte zwar Israels Überleben. Aber zugleich setzten die Eroberungen – besonders im Westjordanland und im Gazastreifen – einen Prozess in Gang, in dessen Verlauf frühere Errungenschaften wieder zunichtegemacht wurden. Statt eine große strategische Entscheidung über die Zukunft der besetzten Gebiete zu treffen, unternahmen die nachfolgenden Regierungen nur kleine, taktische Schritte zur Sicherung der israelischen Vorherrschaft. Diese Politik hatte unbemerkte Nebenwirkungen: Sie untergrub den israelischen Staat und setzte die Demokratie im Land aufs Spiel. Nur wenige Monate nach dem Krieg wurden auf Anordnung eines Kabinettsmitglieds die Vorkriegsgrenzen aus Israels Landkarten gelöscht. Das offizielle Kartenwerk wies nun ein einziges Territorium zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan aus. Zwischen dem souveränen Staat Israel und den neu besetzten Gebieten wurde fortan nicht mehr unterschieden. In symbolischer Hinsicht gab Israel damit auf, was der Soziologe Max Weber als ein grundlegendes Merkmal des modernen Staates benannt hat: ein eindeutig definiertes Territorium.
Auf dem Boden begann der Wandel sogar schon, bevor die Landkarten neu gezeichnet wurden. Im September 1967 genehmigte das Kabinett die erste israelische Siedlung im Westjordanland. Es setzte sich damit über die Rechtsberater des Außenministeriums hinweg, die die Ansiedlung israelischer Bürger in den besetzten Gebieten als Verstoß gegen internationales Recht bewerteten. Das Verwischen der Grenzen höhlte so auch den Rechtsstaat aus. Dieses Muster ist seit den neunziger Jahren immer augenfälliger geworden. Die staatlichen Behörden haben die Errichtung etlicher kleiner Siedlungen unterstützt – der sogenannten »Außenposten« Israels – und dafür Gesetze gebrochen, die im Westjordanland gelten.
Schritt für Schritt sind mithilfe von Gesetzgebung und militärischen Befehlen alle Rechte der innerhalb Israels lebenden israelischen Bürger auf die Siedler ausgedehnt worden. Siedler aus dem Westjordanland nehmen an israelischen Wahlen teil; Palästinenser aus demselben Gebiet dürfen das nicht. Die elementaren Prinzipien der Demokratie – Gleichheit und Volkssouveränität – werden auf diese Weise untergraben.
Die nicht markierte Grenze zum Westjordanland trägt dazu bei, dass dieser demokratische Verfall auch auf den israelischen Kernstaat übergreift. Die undemokratische Besatzung macht Israel selbst kaputt. Unter Netanjahu wurden sehr viele antidemokratische Gesetzentwürfe ins Parlament eingebracht. Ein neues Gesetz unterläuft beispielsweise frühere Gerichtsurteile, die eine Diskriminierung arabischer Bürger Israels aufgrund ihres Wohnortes verhinderten. Ein anderes verbietet jeglichen Aufruf zum Boykott von Waren, die in den Siedlungen produziert wurden. Das alles hat in Israel heftige Kritik ausgelöst.
Dreimal haben die Israelis innerhalb der vergangenen zwanzig Jahre politische Anführer gewählt, die erklärten, die besetzten Gebiete auf­geben und Frieden mit den Palästinensern schließen zu wollen. Der erste dieser Anführer, Izchak Rabin, wurde von einem rechtsextremistischen Juden ermordet – zweifellos der ekla­tanteste Angriff auf die israelische Demokratie. Gleichzeitig setzen sich seit Jahren immer mehr zivilgesellschaftliche Initiativen und Verbände für die Erhaltung der Menschenrechte ein. Sie prangern Übergriffe in den besetzten Gebieten an und gehen gerichtlich gegen Rechtsverletzungen vor.
Doch der eigentliche Schlüssel zur Bewahrung der israelischen Demokratie liegt darin, dass Is­rael seine Herrschaft über das Westjordanland aufgibt. Eine bindende Zwei-Staaten-Lösung würde nicht nur einen palästinensischen Staat schaffen – sie würde auch den jüdischen Staat mit neuem Leben erfüllen. Endlich besäße Israel wieder klare Grenzen. Es würde nicht mehr über ein Gebiet herrschen, in dem manche Menschen Bürger sind und andere entrechtet. Das Zerbröseln der Rechtsstaatlichkeit als Ergebnis der Siedlungspolitik hätte ein Ende.
Benjamin Netanjahu hat sich zwar offiziell zu einer Zwei-Staaten-Lösung bekannt, er macht aber nicht den Eindruck, dieses Ziel auch aktiv zu verfolgen. Stattdessen konzentriert sich nun alle Energie auf den Iran. Man muss nur die Reden, die Premierminister Netanjahu und US-Präsident Barack Obama vor einem Jahr vor dem mächtigen American Israel Public Affairs Committee gehalten haben, damit vergleichen, was sie vor Kurzem vor dieser Pro-Israel-Lobby gesagt haben. 2011 ging es noch um ihre unterschiedlichen Ansichten zur israelisch-palästinensischen Diplomatie. Dieses Jahr haben sie hauptsächlich über den Iran gesprochen. Netanjahu hat den Friedensprozess mit den Palästinensern nicht einmal erwähnt.
Sehr zum Schaden Israels zieht es der Premierminister vor, den gefährlichen Status quo zwischen Israel und den Palästinensern aufrechtzuerhalten. Für Benjamin Netanjahu ist es politisch nützlich, wenn sich die internationale Diskussion über Israel weiterhin fast vollständig um den Konflikt mit dem Iran dreht – in Israels Interesse ist dies nicht.

 

Warum Israel ein Ende der Besatzung braucht

Eine kleine Alternative zum Aipac-Treffen. Stimmen für eine Zweistaatenlösung, gesammelt von JStreet, der alternativen Plattform für Freunde Israels:

 

Israel wird Iran angreifen? Quatsch.

Meint jedenfalls Barry Rubin in der Jerusalem Post:

… the war hysteria with Iran. Iran doesn’t have deliverable nuclear weapons. It is not about to have deliverable nuclear weapons. Israel is not about to attack Iran. The United States is certainly not about to attack Iran. The whole idea that the leaders of Iran are crazed, suicidally minded people who expect the twelfth imam to arrive next Thursday is simply not true.

Yes, the Iranian regime is radical and yes, it throws threats in all directions and yes, it is the world’s biggest sponsor of terrorism. Yet after 32 years in power the Islamist regime in Tehran has yet to do something really adventurous abroad. This regime wants to stay in power and it has shown restraint. When it committed terrorist attacks against Americans in Lebanon, Iraq and Saudi Arabia it did so with the correct calculation that it could get away without paying any price.

(…) Iran’s government is bad enough, but the caricatures we are seeing go far beyond the reality. The country’s main goal, like that of Pakistan, is to make itself immune to any reprisals for terrorism and subversion by having nuclear weapons. In part, the rationale for the nuclear program is outdated, though that certainly won’t stop Tehran from pursuing it. The project was launched to make Iran into the leader of the Middle East, and even of the whole Muslim world.

Yet the rise of Sunni Arab Islamists, notably the Muslim Brotherhood, has sharply reduced Iran’s potential sphere of influence. Tehran’s broader ambitions have been shrunk to include only Lebanon, Syria (where its ally is facing major problems), southwest Afghanistan, and Iraq (where its clients are proportionately small in size). Throw in some ambitions toward Bahrain and the ability to scare the Persian Gulf Arabs and that’s about it. Turkey has its own ambitions; the newly empowered Sunni Arab Islamists hate Iran and don’t think they need Tehran at all.

That doesn’t mean Iran might not some day attack Israel if and when it has nuclear weapons. Obviously a mixture of containment, defensive measures and the ability plus willingness to stage a preemptive attack if necessary are vital for Israel, which isn’t going to depend on Iran’s good will or assume that Tehran will never attack.

At the same time, though, the chances of avoiding a nuclear war are overwhelmingly positive. What is Iran going to do, put two to six missiles on launching pads to shoot at Israel without being detected beforehand and having no second wave that can be used? Is Iran going to attack Israel out of spite, from blind fanaticism, knowing not only that Iran will be devastated but that Israel has a high likelihood of preempting and destroying them on the launching pad or shooting them down?

To start a war with Iran now doesn’t make any sense. It will not stop that country from getting nuclear weapons and it would make a nuclear war in the coming years more rather than less likely. Israel has no international support. Russia is practically threatening a war against Israel if it does launch such an operation.

The logistics of an attack are difficult, though not impossible. A lot can go wrong. You don’t want to try such an operation unless you really have to do so. The bottom line is that an Israeli attack on Iran at present is simply not necessary. A lot of the Israeli rhetoric is clearly intended to press the West toward greater activism and tougher sanctions.

Indeed, all of the reasons why Israel is not about to attack Iran are just plain ignored in the media. Defense Minister Ehud Barak explains that no decision is made and that Israeli policy is only to attack if Iran is about to get deliverable nuclear weapons. He suggests that this won’t happen in the next year. The biggest Israeli critic of launching an attack states that Israel decided not to do so and his worst complaint against Prime Minister Benjamin Netanyahu is that he wants to keep discussing the possibility, not that he has decided on an attack.

President Barack Obama – a man who would never attack Iran or support an Israeli action – has publicly stated that Israel isn’t about to do so. The president of the United States, whatever his other faults, would not say such a thing unless he has been clearly promised by Netanyahu that it isn’t going to happen. If Israel were to break that promise the entire bilateral relationship would blow up in a way that would make recent tiffs seem like a picnic.

In short, the whole idea is nonsense. Numerous reasons can be given to explain why it is not on the agenda for this year. But the media and various analysts – many of them self-proclaimed experts – simply ignore all the evidence. Some want to get Israel into a war with Iran to please their own ideological agenda; others want to claim Israel is going to attack in order to prove their thesis that Israel is the evil cause of all regional – or even world – problems.

This hysteria really should stop. Israel isn’t going to get into a long, bloody and avoidable war because bloggers and op-ed writers are screaming for it. (…)

 

Ein palästinensischer Gandhi?

Es ist etwas in mehrfacher Hinsicht Merkwürdiges geschehen: Der Hungerstreik eines Häftlings in israelischer „Administrativhaft“ hat mit einer Einigung des Häftlings und der israelischen Militärverwaltung geendet. Khader Adnan war berreits über 60 Tage im Hungerstreik, seine Situation wurde als kritisch beschreiben. Ein Tod dieses Gefangenen hätte zu Ausschreitungen führen können, womöglich gar zu einem Aufstand. Er war aber offenbar entschlossen, bis zum Ende durchzuhalten – und hat nun einen Sieg errungen.

Die israelische Regierung teilt mit:

Adnan wird der Einigung zwischen ihm und der Staatsanwaltschaft zufolge in dem Fall nicht in Berufung gehen bzw. diese zurückziehen. Der Staat Israel teilt mit, dass er auf Ratschlag des Rechtsberaters der Regierung bereit ist, auf einen Antrag auf Verlängerung der Administrativhaft zu verzichten und die Tage, an denen Adnan zum Verhör festgehalten wurde, auf die Administrativhaft anzurechnen.

Der Gefangene wird also demnächst freigelassen werden, auf die Verlängerung seiner haft wird verzichtet.

Warum ist die Sache bemerkenswert? Es handelt sich bei Adnan um ein (nach israelischer Auskunft) aktives Mitglied der fundamentalistischen Terrorgruppe „Islamischer Dschihad“ (PIJ). Diese Gruppe macht immer wieder durch Raketenangriffe aus dem Gazastreifen auf sich aufmerksam. Sie ist, zusammen mit den diversen Salafisten-Gruppen, sozusagen die islamistisch „rechtsextreme“ Alternative zu Hamas.

Wenn nun ein führender Aktivist dieser Gruppe einen Erfolg durch friedlichen Protest erzielt, ist das bedeutsam. Solche Methoden wurden früher rundheraus abgelehnt, weil Israel angeblich nur die Gewalt der Selbstmordattentate verstehe. Jetzt aber hat der Islamische Dschihad es geschafft, eine internationale Kampagne – inklusive Amnesty International und Al Jazeera – auf seine Seite zu ziehen.

Es ist bedenklich, wenn manche Aktivisten ein Mitglied dieser Gruppe, die sich der Vernichtung Israels verschworen hat, als „Palästinensischen Gandhi“ hinstellen. Zwar ist es völlig in Ordnung, wenn sich Amnesty für ihn einsetzt, wie die Organisation es überall tut – ohne Rücksicht auf die politische Affiliation der Betroffenen.

Aber seitens der Unterstützer Adnans so zu tun, als sei PIJ eine palästinensische Menschenrechts-NGO geht dann doch zu weit. Es handelt sich um eine von Syrien und Iran finanzierte Gruppe, die für einige der barbarischsten Attentate der letzten Jahrzehnte Verantwortung trägt (Liste hier). Sie lehnt nicht nur Israels Existenzberechtigung ab, sondern konsequenter Weise auch die Oslo-Verträge, die Fatah mit dem jüdischen Staat geschlossen hatte. Einige der Attentate von PIJ zielten auf die Zerstörung der Friedenshoffnungen post-Oslo. Viele der schlimmsten Attentate auf israelische Büger während der „Zweiten Intifada“ gehen auf PIJ zurück.

Dies wiederum macht Adnans „Sieg“ durch Hungerstreik bemerkenswert: Wenn Israel sich darauf einläßt, trotz der breiten Blutspur dieser Gruppe, dann zeigt dies, dass man die Gefahr hoch einschätzt, dass Adnan zu einem elektrisierenden Casus hätte werden können.

Ein Stück von Mustafa Barguti in der heutigen New York Times erklärt vielleicht den Hintergrund. Barguti ist der wichtigste säkulare, unabhängige Politiker Palästinas. Er führt die Palästinensische Nationalinitiative an, und er wurde zuletzt Zweiter bei den palästinensischen Präsidentschaftswahlen.

Barguti sieht Adnans Erfolg als Anlass zur Hoffnung für einen breiten gewaltfreien Protest gegen die Besatzung:

OVER the past 64 years, Palestinians have tried armed struggle; we have tried negotiations; and we have tried peace conferences. Yet all we have seen is more Israeli settlements, more loss of lives and resources, and the emergence of a horrifying system of segregation.

Khader Adnan, a Palestinian held in an Israeli prison, pursued a different path. Despite his alleged affiliation with the militant group Islamic Jihad, he waged a peaceful hunger strike to shake loose the consciences of people in Israel and around the world. Mr. Adnan chose to go unfed for more than nine weeks and came close to death. He endured for 66 days before ending his hunger strike on Tuesday in exchange for an Israeli agreement to release him as early as April 17.

Mr. Adnan has certainly achieved an individual victory. But it was also a broader triumph — unifying Palestinians and highlighting the power of nonviolent protest. Indeed, all Palestinians who seek an independent state and an end to the Israeli occupation would be wise to avoid violence and embrace the example of peaceful resistance.

What is needed is a Palestinian version of the Arab revolutions that have swept the region: a mass movement demanding freedom, dignity, a just peace, real democracy and the right to self-determination. We must take the initiative, practice self-reliance and pursue a form of nonviolent struggle that we can sustain without depending on others to make decisions for us or in our place.

In the last several years, Palestinians have organized peaceful protests against the concrete and wire “separation barrier” that pens us into what are best described as bantustans. We have sought to mobilize popular resistance to this wall by following in the nonviolent traditions of Martin Luther King Jr. and Mohandas K. Gandhi — and we remain determined to sustain peaceful protest even when violently attacked.

Using these techniques, we have already succeeded in pressuring the Israeli government to reroute the wall in villages like Jayyous and Bilin and helped hundreds of Palestinians get their land back from settlers or the Israeli Army.

Our movement is not intended to delegitimize Israel, as the Israeli government claims. It is, instead, a movement to delegitimize the Israeli occupation of the West Bank, which we believe is the last surviving apartheid system in the world. It is a movement that could free Palestinians from nearly 45 years of occupation and Israelis from being part of the last colonial-settler system of our time.

Die spannende Frage ist allerdings, ob eine solche Bewegung am Ende von Leuten wie Barguti angeführt würde, für die der Kampf gegen die Besatzung an der Grünen Linie endet. Das würde voraussetzen, dass Gruppen wie Islamischer Dschihad von ihrer Lehre herunterkommen können, nach der ganz Israel eine Besatzung heiligen Bodens ist, den kein Muslim aufgeben darf.

 

 

Wiedersehen mit Hebron

Fast fünf Jahre nach meinem letzten Besuch war ich wieder in Hebron, der zentralen Stadt im Westjordanland, südlich von Jerusalem. Die Stadt ist heute ruhig und so sicher wie lange nicht mehr. Der Preis dafür ist, dass Hebron aufgehört hat, als normale Stadt zu existieren. Sie ist zum Ort eines Kampfs um die historische, religiöse, mythische Wahrheit geworden. Hebron ist extrem, aber die Stadt ist auch ein Mikrokosmos der israelischen Besatzung.

Seit 5000 Jahren ist dieser Ort ununterbrochen bewohnt, er hat schon vieles gesehen. Wer sich von der Wahrheit des Satzes von Christopher Hitchens überzeugen will, „dass Religion alles vergiftet“, ist hier am richtigen Ort. Islam und Judentum beanspruchen das Erbe des Patriarchen, der hier nach dem Glauben beider Religionen begraben liegt – Abraham (nebest Sarah und Rachel).

Einige Bilder von meiner Reise: Diese zentrale Straße der Altstadt ist verwaist. Sie ist „steril“ im Jargon des israelischen Militärs, d.h. Palästinenser dürfen sich hier nicht aufhalten. (Mit dem Abkommen über die Palästinensische Autonomie wurde Hebron zweigeteilt in H1 und H2. H1 steht unter Kontrolle der PA, H2 – die historische Altstadt -, ist von jüdischen Siedlern bewohnt, die durch die Armee geschützt werden.)

Hebron, Stadtzentrum: "sterile Zone", also unzugänglich für Palästinenser

An dieser ebenfalls „sterilen“ Ecke hat sich während der „Zweiten Intifada“ ein  Selbstmordattentat ereignet. Man achte auf die Leuchtreklame.

Jehuda Shaul von der israelischen NGO „Breaking the Silence“ war Soldat in Hebron während der Terrorwelle der Zweiten Intifada. Heute engagiert er sich gegen die Besatzung. Er führt Gruppen durch Hebron, um die Realität der Okkupation aus der Sicht eines Ex-Soldaten zu erklären. Hier hält er ein Foto aus dem Jahr 1999, das zeigt, wie die verlassene Straße einmal in besseren Zeiten aussah.

Im Zentrum Hebrons: Armeeposten auf verlassenem Marktgebäude. Auf dem Plakat werden die historischen Ansprüche der Siedler formuliert.

Haus an der Shuhada Strasse in Hebron: Palästinenser dürfen das Haus nicht durch den versiegelten Vordereingang betreten. Die Familie im Obergeschoss hat einen Käfig an ihrem Balkon angebracht, um sich vor Steinwürfen der Siedler zu schützen. Auf den Plakaten unten und oben wird der Kampf um das historische Recht am Ort ausgetragen.

Sperrmauer in Hebron zwischen jüdischem und arabischem Teil mit Graffito des zerstörten Zweiten Jerusalemer Tempels.

Im arabisch kontrollierten Teil Hebrons: Israelis haben in H1 keinen Zutritt. Die IDF errichten je nach Sicherheitslage Checkpoints und Kontrollen und können den Zugang zu diesem Teil der Stadt abschnüren.

Am Ende dieser Straße in H1 ist der israelische Checkpoint, an dem die für die Palästinenser Hebrons erlaubte Zone endet.

Soldat auf Patrouille in H2, dem israelisch kontrollierten Teil Hebrons. Der Lieferwagen gehört Siedlern in der Stadt, die an die Soldaten kostenlose Süßigkeiten und Erfrischungen verteilen.

 

(Alle Fotos: J. Lau. Mehr zum Thema in meiner kommenden Reportage für das ZEIT-Magazin.)

 

 

Sderot, eine Stadt im Raketenhagel

Kobi Harush ist der Chef des Sicherheisdienstes von Sderot, der südisraelischen Stadt am nördlichen Ende des Gazastreifens. In einem früheren Leben war er der persönliche Fahrer Ariel Scharons. Er ist ein ziemlich harter Kunde, ein lakonischer Kettenraucher. Aber seine Zeit hier hat ihn sichtbar mitgenommen. Denn die Sicherheit, für die er zuständig ist, gibt es in Sderot nicht, außer in den ubiquitären Bunkern. Sie prägen das Stadtbild. Jede Bushaltestelle hat einen Bunker, jeder Kinderspielplatz. Jede Wohnung sowieso. Die Schulen haben alle schußsichere Verglasung.

Kobi Harush vor der Kulisse Sderots   

Wir treffen ihn zusammen mit Motti Numan, dem zuständigen IDF-Kommandeur der Region. Die beiden erwarten uns auf einem Hügel westlich der Stadt, von dem aus man weit in den Gaza-Streifen hinein schauen kann. Nur einen Kilometer weit entfernt verläuft die Grenze.

Sderot ist das einfachste Ziel für Raketen- und Granatenangriffe. Nachts ist die Stadt, in der etwa 20.000 Menschen leben, leicht mit bloßem Auge zu sehen. „Die schießen einfach in die Richtung des Lichts“, sagt Motti Numan. „Die Raketen sind sehr ungenau, aber es geht auch mehr um die Terrorwirkung als um konkrete Treffer.“ Ein Viertel der Bewohner hat Sderot verlassen. Übrig bleiben die, die es sich nicht leisten können, anderswo hinzuziehen.

Die Terrorwirkung des Raketenbeschusses hält weiterhin an. Kobi Harush spricht von 8.400 Angriffen auf Sderot in den letzten 10 Jahren. Besonders schlimm war es nach dem Rückzug aus Gaza, als Hunderte Raketen in einzelnen Monaten gezählt wurden. Heute ist Sderot ein vergessener Ort, selbst in Israel. Man hat sich daran gewöhnt, dass immer wieder Raketen die Stadt bedrohen. Es ist kaum noch eine Medlung wert. „Mit Ausnahme der Woche, in der die Shalit-Verhandlungen zuende gingen, haben wir keine Pause gehabt. Damals wollte die Hamas den Abschluss nicht gefährden. Seither geht es wieder auf niedrigem Niveau weiter.“

Der Bombenterror reicht, um die Stadt im steten posttraumatischen Zustand zu halten, bleibt aber unterhalb der Schwelle, ab der die Armee eingreifen und zurückschlagen müßte.  Die Vorwarnzeit für die Bewohner liegt bei 15 Sekunden vom Sirenenklang bis zum Einschlag. Kinder werden regelmäßig trainiert, innerhalb von 15 Sekunden von der Toilette in den Bunker zu rennen.

„Für uns gibt es kein Posttrauma“, sagt Kobi Harush, „nur Dauertrauma. Zwei Drittel der Kinder hier sind in einer Form therapeutischer Behandlung.“ Kein anderes Land würde sich so etwas gefallen lassen, sagt er resigniert. Dass der Beschuss nach dem Rückzug weiterging, spricht für ihn dafür, dass Hamas auch Sderot „befreien“ will, wie ganz Israel.

Hinter dem Hügel beginnt Gaza.                Fotos: J.Lau

Kobi erzählt von seinem palästinensischen Freund Said, den er seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hat. Während der israelischen Militäraktion „Gegossenes Blei“ hatte er sich gefragt, wie es Said wohl ginge. Er hatte noch eine Nummer, also rief er an. Said war am Telefon, er sei unversehrt. Weil er weder zu Hamas noch zu Fatah gehörte, ginge es ihm allerdings schlecht. Kobi veranstaltete unter Freunden eine Sammlung für Said, man übergab ihm das Geld am Checkpoint Eretz: „Wir sind früher in Gaza einkaufen gegangen, oder zum Baden an den herrlichen Strand – einen der schönsten Strände in der ganzen Region. Wieso machen die nichts draus? Das könnte ein Paradies sein.“

Motti Numan ergänzt verschmitzt, Juden hätten an den Strand längst ein Casino gebaut: „Aber diese Leute schießen mit Raketen sogar noch auf das Kraftwerk in Ashkelon, das Strom auch für sie erzeugt – weil es mit seinen Kaminen ein gutes Ziel abgibt. Das ist doch irre.“

 

Israel im „perfekten Sturm“ – ein Gespräch mit einem Oberst

Knapp eine Woche war ich in Israel und der Westbank unterwegs, um mit besatzungskritischen NGO’s, Ex-Soldaten, Offizieren und Intellektuellen über die Lage im Lande zu sprechen. Eine größere Reportage wird folgen.

Hier werde ich in loser Folge einige Notizen von meinen Gesprächen veröffentlichen. Den Anfang macht Colonel Avi Gil, den ich vorgestern treffen konnte. Dank an den IDF-Sprecher Arye Sharuz Shalicar, (der eine eigene Story verdient hätte), dies ermöglicht zu haben.

Zwanzig Grad im südlichen Israel, ein herrlicher Sonnentag Anfang Februar, als wir die Kaserne im Herzen von Beer Sheva betreten – anderthalb Autostunden südlich von Tel Aviv. Avi Gil, ein drahtig–athletischer, nicht sehr großer Mann mit einem graugesprenkeltem Bürstenhaarschnitt, leitet von der Wüstenstadt aus das Südliche Kommando der Israelischen Streitkräfte.
Der Oberst – noch keine vierzig Jahre alt – hat seit seinem Eintritt in die Armee 1990 eine steile Karriere gemacht, die sicher noch nicht am Ende ist: Fallschirmjäger, Kompanieführer in der Offizierschule, Kommandeur der Spezialkräfte während der Operation „Defensive Shield“ in der West Bank (während der Terrorwelle der Zweiten Intifada), zwischenzeitlich Verbindungsoffizier zu den Marines in den USA, schließlich ab 2009 Brigadekommandeur in der West Bank – in anderen Worten: er war damals so etwas wie der heimliche Herrscher in den besetzten Gebieten.
Die Koordination der Armee mit der Palästinensischen Autonomiebehörde war dort sein tägliches Brot. Er habe über die Jahre gelernt, den meisten auf der anderen Seite zu trauen, sagt er. „Den meisten!“, betont er. Nach dem Blutbad der Zweiten Intifada habe es ein gemeinsames Interesse an Sicherheit und Stabilität gegeben, das bis heute bestehe. Er zeigt mir in seinem Büro eine Bildcollage, die man ihm zum Abschied aus der Westbank mitgegeben hat. Da sieht man Avi Gil Tee Trinken mit palästinensischen Sicherheitskräften, Politikern, Beamten – bei allen möglichen Gelegenheiten wie Einweihungen und sonstigen Feiern: „Hätten Sie mich vor zehn Jahren gefragt, ob so etwas möglich ist, hätte ich Sie für verrückt gehalten.“
Die Lage habe sich in der Westbank sehr verbessert, sowohl was die Sicherheit angeht – Israels Hauptsorge –, als auch die Lebensumstände der palästinensischen Bevölkerung. Avi Gil, der nur wenige Jahre zuvor Spezialkräfte geleitet hatte, die Terroristen in der Westbank jagten, hatte am Ende seiner Zeit als Kommandeur der Ephraim Brigade nahezu freundschaftliche Verhältnisse zu Offizieren der PA. Am Ende konnte er Städte in den besetzten Gebieten sogar ohne schutzsichere Weste besuchen: „Mein Konzept lautet: Du darfst die Realität nicht nur durch das Visier deines Gewehrs wahrnehmen.“

Ein sonniger Tag an der Grenze zu Gaza, in der Pufferzone vor der Sperrmauer. Von dem höher gelegenen Terrain gegenüber haben palästinenische Sniper immer wieder auf einen nahen Kibbutz geschossen.

 

Trotzdem ist er der Meinung, dass es noch nicht an der Zeit ist, sich aus der Westbank zurückzuziehen. Die PA bemühe sich, und sie unterstütze den Terror nicht mehr, „aber wir sind noch nicht an dem Punkt, an dem wir die Sicherheit Israels in deren Hände legen können“.
Der Oberst erwähnt hier den Mord an der Familie Fogel in der Siedlung Itamar, der sich bald jähren wird. Die gesamte Familie, inklusive eines schlafenden Babys, war im März letzten Jahres von palästinensischen Terroristen ausgelöscht worden. Im Westen hat dieser Vorfall nicht viel Aufsehen erregt wegen des Arabischen Frühlings und Fukushima. In Israel wird es immer wieder erwähnt, wenn man über die Brüchigkeit der klage spricht. Gil erinnert sich noch mit Grauen an der Anruf, der ihm um halb Eins nachts aus dem Bett holte.
Und dann jedoch benutzt er ein erstaunliches Bild: „Wir müssen uns langsam vorwärts bewegen. Wir sind wie ein Paar nach einer schlimmen Krise. Wir müssen erst einmal wieder Vertrauen aufbauen.“
Ein Paar? Von Regierungspolitikern würde man diese Sprache nicht hören. Wie so oft, sind Soldaten pragmatischer und unideologischer als die Lautsprecher der großen Politik.
Gil ist dennoch sehr vorsichtig, trotz der Wandlungen, die er in seinem eigenen (Soldaten-)Leben mitgemacht hat. Und damit ist der Oberst, wie mir scheint, nicht weit entfernt von der Einstellung des Durchschnittsisraelis: Man will den Friedensprozess gerne vorwärts gehen sehen. Aber zur Zeit überwiegt (wieder) das Gefühl, in einer absolut unberechenbaren und hoch entflammbaren Lage zu sein. Nicht nur wegen der Eskalation mit Iran. Das gilt auch für die Lage in Israels Süden, dessen Sicherheit in den Händen von Avi Gil ist.
„Unsere Nachbarschaft ist mitten in einem perfekten Sturm. Die erste Böe dieses Sturms haben wir 2006 in Gaza erlebt, als Hamas in einem Coup die Macht übernahm.“ Hamas, sagt Gil, sei in einer Identitätskrise, die sich in einem Machtkampf zwischen der politischen Führung außerhalb Gazas und dem Kern der militärischen und politischen Führung in Gaza ausdrücke. Hamas müsse sich entscheiden, ob sie auf Erfolg bei Wahlen setze wie die Muslimbrüder in Ägypten und Tunesien, oder weiter auf Dschihad. Zur Zeit sei die Führung unter Khaled Meschal außerhalb Gazas eindeutig geschwächt, auch durch den Verlust der syrischen Basis in Damaskus. Ismail Hanije, der politische Führer aus Gaza, sympathisiere mit der Idee, der neue große Repräsentant nach Außen zu werden, wobei ihm seine neuen Reisemöglichkeiten helfen. Dass Hamas sich wegen des Erfolgs des Muslimbrüder nach Ägypten orientiere, sei im Prinzip nicht schlecht für Israel, es könne auch zu einer größeren Berechenbarkeit führen.
Die militärische Führung unter Leuten wie Ahmad Jabari setze aber naturgemäß auch den Dschihad zur „Befreiung ganz Palästinas“ (worunter das heutige Israel inklusive Westbank verstanden wird). Aber man halte sich derzeit zurück, um in Ruhe die militärischen Kapazitäten wiederaufzubauen, die Israel in „Cast Lead“ vernichtet hat. Die florierende Tunnelwirtschaft mache das möglich. Unterdessen halten mit Duldung der Hamas konkurrierende Gruppen den militärischen Dschihad auf kleiner Flamme am Leben.
Ich frage den Oberst, ob Hamas denn tatsächlich die Kontrolle über alle militanten Gruppen habe: „Zu achtzig Prozent ist es direkte Kontrolle, zu zehn Prozent der Unwille zur Kontrolle und bei weiteren zehn Prozent keine Kontrolle durch Hamas.“ In jedem Fall sei Terror auf niedrigem Niveau – gerade so, dass eine israelische Gegenoperation zur Zeit unverhältnismäßig wirken würde – im Moment ideal für Hamas. Und für ihn bleibe Hamas als absolute Regierungsmacht die verantwortliche Adresse, ganz egal wer gerade die Raketen abschieße.
Der Oberst macht sich große Sorgen um den Sinai, der zum gesetzlosen Niemandsland wurde, seit Ägypten mit sich selbst beschäftigt ist. Fünf Beduinenstämme kontrollieren das gesamte Gebiet mit ungeheurer Brutalität (vor allem gegen afrikanische Migranten, die von dort nach Israel einwandern wollen.) Der Sinai sei heute ein ideales Aufmarschgebiet für Terrorgruppen, wie sich im letzten August bei den Attacken nahe Eilat gezeigt habe.
Israel werde alles tun, um den Friedensvertrag mit Ägypten am Leben zu erhalten. Aber die Herausforderung für Israel liege darin, dass „wir uns von der Situation einer Friedensgrenze hin bewegen zu einer Grenze mit einem Friedensarrangement zwischen zwei Staaten und Terroraktivitäten“. Die Lage derzeit sei paradox: „Es ist sehr viel friedlicher als vor wenigen Jahren, aber wenn nur eine Rakete einen Kindergarten trifft, dann halte ich es für undenkbar, dass wir hier einfach nur sitzen bleiben. Auch die permanente Aufrüstung in Gaza könne dazu führen, dass man handeln müsse, um eine ‚breakout capability‘ zu verhindern – eine Aufrüstung mit Waffen, die den Status Quo verändern, wie etwa Langstreckenraketen, die weite Teile Israels erreichen können. „So könnten wir uns – ohne den Willen zu einer weiteren militärischen Operation – in einer Lage vorfinden, die sie unvermeidlich macht.“ Ein amerikanischer Journalist hat ihn vor einiger Zeit gefragt, was er bevorzugen würde: Den Status Quo erhalten, militärisch eingreifen oder sich zurückziehen? Na was wohl, habe er geantwortet. „Ich habe Zwillinge, und ich hätte gerne, dass meine Jungs nach der Schule einfach ein Studium anfangen können wie junge Leute überall auf der Welt – dass sie nicht mit 18 gleich zum Militärdienst müssten. Aber danach sieht es leider nicht aus.“