Knapp eine Woche war ich in Israel und der Westbank unterwegs, um mit besatzungskritischen NGO’s, Ex-Soldaten, Offizieren und Intellektuellen über die Lage im Lande zu sprechen. Eine größere Reportage wird folgen.
Hier werde ich in loser Folge einige Notizen von meinen Gesprächen veröffentlichen. Den Anfang macht Colonel Avi Gil, den ich vorgestern treffen konnte. Dank an den IDF-Sprecher Arye Sharuz Shalicar, (der eine eigene Story verdient hätte), dies ermöglicht zu haben.
Zwanzig Grad im südlichen Israel, ein herrlicher Sonnentag Anfang Februar, als wir die Kaserne im Herzen von Beer Sheva betreten – anderthalb Autostunden südlich von Tel Aviv. Avi Gil, ein drahtig–athletischer, nicht sehr großer Mann mit einem graugesprenkeltem Bürstenhaarschnitt, leitet von der Wüstenstadt aus das Südliche Kommando der Israelischen Streitkräfte.
Der Oberst – noch keine vierzig Jahre alt – hat seit seinem Eintritt in die Armee 1990 eine steile Karriere gemacht, die sicher noch nicht am Ende ist: Fallschirmjäger, Kompanieführer in der Offizierschule, Kommandeur der Spezialkräfte während der Operation „Defensive Shield“ in der West Bank (während der Terrorwelle der Zweiten Intifada), zwischenzeitlich Verbindungsoffizier zu den Marines in den USA, schließlich ab 2009 Brigadekommandeur in der West Bank – in anderen Worten: er war damals so etwas wie der heimliche Herrscher in den besetzten Gebieten.
Die Koordination der Armee mit der Palästinensischen Autonomiebehörde war dort sein tägliches Brot. Er habe über die Jahre gelernt, den meisten auf der anderen Seite zu trauen, sagt er. „Den meisten!“, betont er. Nach dem Blutbad der Zweiten Intifada habe es ein gemeinsames Interesse an Sicherheit und Stabilität gegeben, das bis heute bestehe. Er zeigt mir in seinem Büro eine Bildcollage, die man ihm zum Abschied aus der Westbank mitgegeben hat. Da sieht man Avi Gil Tee Trinken mit palästinensischen Sicherheitskräften, Politikern, Beamten – bei allen möglichen Gelegenheiten wie Einweihungen und sonstigen Feiern: „Hätten Sie mich vor zehn Jahren gefragt, ob so etwas möglich ist, hätte ich Sie für verrückt gehalten.“
Die Lage habe sich in der Westbank sehr verbessert, sowohl was die Sicherheit angeht – Israels Hauptsorge –, als auch die Lebensumstände der palästinensischen Bevölkerung. Avi Gil, der nur wenige Jahre zuvor Spezialkräfte geleitet hatte, die Terroristen in der Westbank jagten, hatte am Ende seiner Zeit als Kommandeur der Ephraim Brigade nahezu freundschaftliche Verhältnisse zu Offizieren der PA. Am Ende konnte er Städte in den besetzten Gebieten sogar ohne schutzsichere Weste besuchen: „Mein Konzept lautet: Du darfst die Realität nicht nur durch das Visier deines Gewehrs wahrnehmen.“
Ein sonniger Tag an der Grenze zu Gaza, in der Pufferzone vor der Sperrmauer. Von dem höher gelegenen Terrain gegenüber haben palästinenische Sniper immer wieder auf einen nahen Kibbutz geschossen.
Trotzdem ist er der Meinung, dass es noch nicht an der Zeit ist, sich aus der Westbank zurückzuziehen. Die PA bemühe sich, und sie unterstütze den Terror nicht mehr, „aber wir sind noch nicht an dem Punkt, an dem wir die Sicherheit Israels in deren Hände legen können“.
Der Oberst erwähnt hier den Mord an der Familie Fogel in der Siedlung Itamar, der sich bald jähren wird. Die gesamte Familie, inklusive eines schlafenden Babys, war im März letzten Jahres von palästinensischen Terroristen ausgelöscht worden. Im Westen hat dieser Vorfall nicht viel Aufsehen erregt wegen des Arabischen Frühlings und Fukushima. In Israel wird es immer wieder erwähnt, wenn man über die Brüchigkeit der klage spricht. Gil erinnert sich noch mit Grauen an der Anruf, der ihm um halb Eins nachts aus dem Bett holte.
Und dann jedoch benutzt er ein erstaunliches Bild: „Wir müssen uns langsam vorwärts bewegen. Wir sind wie ein Paar nach einer schlimmen Krise. Wir müssen erst einmal wieder Vertrauen aufbauen.“
Ein Paar? Von Regierungspolitikern würde man diese Sprache nicht hören. Wie so oft, sind Soldaten pragmatischer und unideologischer als die Lautsprecher der großen Politik.
Gil ist dennoch sehr vorsichtig, trotz der Wandlungen, die er in seinem eigenen (Soldaten-)Leben mitgemacht hat. Und damit ist der Oberst, wie mir scheint, nicht weit entfernt von der Einstellung des Durchschnittsisraelis: Man will den Friedensprozess gerne vorwärts gehen sehen. Aber zur Zeit überwiegt (wieder) das Gefühl, in einer absolut unberechenbaren und hoch entflammbaren Lage zu sein. Nicht nur wegen der Eskalation mit Iran. Das gilt auch für die Lage in Israels Süden, dessen Sicherheit in den Händen von Avi Gil ist.
„Unsere Nachbarschaft ist mitten in einem perfekten Sturm. Die erste Böe dieses Sturms haben wir 2006 in Gaza erlebt, als Hamas in einem Coup die Macht übernahm.“ Hamas, sagt Gil, sei in einer Identitätskrise, die sich in einem Machtkampf zwischen der politischen Führung außerhalb Gazas und dem Kern der militärischen und politischen Führung in Gaza ausdrücke. Hamas müsse sich entscheiden, ob sie auf Erfolg bei Wahlen setze wie die Muslimbrüder in Ägypten und Tunesien, oder weiter auf Dschihad. Zur Zeit sei die Führung unter Khaled Meschal außerhalb Gazas eindeutig geschwächt, auch durch den Verlust der syrischen Basis in Damaskus. Ismail Hanije, der politische Führer aus Gaza, sympathisiere mit der Idee, der neue große Repräsentant nach Außen zu werden, wobei ihm seine neuen Reisemöglichkeiten helfen. Dass Hamas sich wegen des Erfolgs des Muslimbrüder nach Ägypten orientiere, sei im Prinzip nicht schlecht für Israel, es könne auch zu einer größeren Berechenbarkeit führen.
Die militärische Führung unter Leuten wie Ahmad Jabari setze aber naturgemäß auch den Dschihad zur „Befreiung ganz Palästinas“ (worunter das heutige Israel inklusive Westbank verstanden wird). Aber man halte sich derzeit zurück, um in Ruhe die militärischen Kapazitäten wiederaufzubauen, die Israel in „Cast Lead“ vernichtet hat. Die florierende Tunnelwirtschaft mache das möglich. Unterdessen halten mit Duldung der Hamas konkurrierende Gruppen den militärischen Dschihad auf kleiner Flamme am Leben.
Ich frage den Oberst, ob Hamas denn tatsächlich die Kontrolle über alle militanten Gruppen habe: „Zu achtzig Prozent ist es direkte Kontrolle, zu zehn Prozent der Unwille zur Kontrolle und bei weiteren zehn Prozent keine Kontrolle durch Hamas.“ In jedem Fall sei Terror auf niedrigem Niveau – gerade so, dass eine israelische Gegenoperation zur Zeit unverhältnismäßig wirken würde – im Moment ideal für Hamas. Und für ihn bleibe Hamas als absolute Regierungsmacht die verantwortliche Adresse, ganz egal wer gerade die Raketen abschieße.
Der Oberst macht sich große Sorgen um den Sinai, der zum gesetzlosen Niemandsland wurde, seit Ägypten mit sich selbst beschäftigt ist. Fünf Beduinenstämme kontrollieren das gesamte Gebiet mit ungeheurer Brutalität (vor allem gegen afrikanische Migranten, die von dort nach Israel einwandern wollen.) Der Sinai sei heute ein ideales Aufmarschgebiet für Terrorgruppen, wie sich im letzten August bei den Attacken nahe Eilat gezeigt habe.
Israel werde alles tun, um den Friedensvertrag mit Ägypten am Leben zu erhalten. Aber die Herausforderung für Israel liege darin, dass „wir uns von der Situation einer Friedensgrenze hin bewegen zu einer Grenze mit einem Friedensarrangement zwischen zwei Staaten und Terroraktivitäten“. Die Lage derzeit sei paradox: „Es ist sehr viel friedlicher als vor wenigen Jahren, aber wenn nur eine Rakete einen Kindergarten trifft, dann halte ich es für undenkbar, dass wir hier einfach nur sitzen bleiben. Auch die permanente Aufrüstung in Gaza könne dazu führen, dass man handeln müsse, um eine ‚breakout capability‘ zu verhindern – eine Aufrüstung mit Waffen, die den Status Quo verändern, wie etwa Langstreckenraketen, die weite Teile Israels erreichen können. „So könnten wir uns – ohne den Willen zu einer weiteren militärischen Operation – in einer Lage vorfinden, die sie unvermeidlich macht.“ Ein amerikanischer Journalist hat ihn vor einiger Zeit gefragt, was er bevorzugen würde: Den Status Quo erhalten, militärisch eingreifen oder sich zurückziehen? Na was wohl, habe er geantwortet. „Ich habe Zwillinge, und ich hätte gerne, dass meine Jungs nach der Schule einfach ein Studium anfangen können wie junge Leute überall auf der Welt – dass sie nicht mit 18 gleich zum Militärdienst müssten. Aber danach sieht es leider nicht aus.“