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Kein Döner-Land in dieser Zeit

Werte Gemeinde, heute gibt es für Berliner Gelegenheit, unseren Mitblogger Cem Gülay mit seinem neuen Buch live zu erleben:

CEM GÜLAY & HAMED ABDEL-SAMAD & HANS RATH: KEIN DÖNER-LAND

„Kurze Interviews mit fiesen Migranten“ – Lesung + Diskussion

Mit seiner Autobiografie „Türken-Sam“ ist Cem Gülay
aufgrund seiner Auftritte und Lesungen zu einer Art
literarischem Sozialarbeiter geworden, mit dem alle
reden, Jugendliche und Erwachsene, Migranten und
„Bio-Deutsche“.
Daraus entsteht ein scharfes, manchmal satirisch
gefärbtes Bild vom Stand der Dinge nach Sarrazin.
Viel Kommunikation fand im Internet statt, politisch
korrekt und politisch unkorrekt. Auf der Seite PI
(www.pi-news.net) gab es 327 Kommentare zu Gülay,
von „Stoppt Tierversuche! Nehmt Türken!“ bis zu –
„Thilo sei Dank – anatolisches Inzuchtmännchen“.

Die Parallelwelten kann man nicht auflösen, man kann sie
nur ausdünnen. Zuerst muss man mal genau hinsehen.
Das gilt nicht nur für den Verfassungsschutz.

Präsentiert von: Hugendubel am Hermannplatz

EINTRITT
8 €

TICKETS
Tickethotline 030. 61 10 13 13

VVK im Heimathafen Neukölln Büro | Karl-Marx-Straße 141, Vorderhaus, 3. Stock
Infos 030. 56 82 13 33

VVK ohne Gebühr für ausgewählte Veranstaltungen im Heimathafen
Hugendubel am Hermannplatz | Mo. bis Sa. von 10 bis 20 Uhr

 

Wie Nasser einmal einen Witz über die Muslimbrüder machte

Dieses Video ist sehr erhellend über den Wandel in Ägypten. Gamal Abdul Nasser erzählt hier, dass er mit den Muslimbrüdern einmal habe zusammenarbeiten wollen, „um sie auf den rechten Weg zu bringen“. Die erste Forderung des Führers sei gewesen, das Kopftuch zwingend einzuführen. Daraufhin lacht SPONTAN das Publikum. Kann man sich etwas Absurderes vorstellen! Die Frauen unters Kopftuch zwingen! Einer ruft gar: Soll er es doch selber tragen!
Dann kommt Nassers trockene Pointe: Er habe dem Führer der MB geantwortet: Haben Sie nicht eine Tochter, die Medizin studiert? Die trägt aber nicht Kopftuch! (Gelächter, abermals) Und wenn es nicht möglich ist, eine Frau unters Kopftuch zu zwingen, wie soll ich dann 10 Millionen Ägypterinnen dazu zwingen? (Gelächter).
Gut gegeben. Aber gewonnen hat die MB. Heute gibt es in Ägypten so gut wie keine Frau mehr ohne Kopftuch. Es sei denn, sie ist eine sehr mutige Christin, oder sehr privilegierte Frau, die sich zu schützen weiß und die Straße meidet. Und alles selbstverständlich völlig freiwillig.
Wer sich trauen würde, in Ägypten öffentlich über die MB in dieser Weise zu scherzen wie es Nasser tut, müsste hingegen mit einem Blasphemieprozess rechnen.

 

Ein koptischer Bischof will Ägypten verändern

Die letzte Woche habe ich in Ägypten verbracht, in Begleitung des Koptisch-Orthodoxen Bischofs Anba Damian, der für die ägyptischen Christen in Deutschland zuständig ist. Bischof Damian war wegen der Papstwahl in seinem Heimatland, ich konnte die Synode am letzten Montag aus nächster Nähe erleben. Die Reise war Teil einer Langzeitrecherche über Christen im Nahen Osten. Ein Dossier zum Thema soll Ende November in der ZEIT erscheinen. Von meinen Eindrücken kann ich darum hier vieles leider nicht vorab teilen. 

Eine Begegnung aber, die durch Bischof Damian möglich wurde, hat mich sehr bewegt, und über sie will ich einiges mitteilen. Wir trafen Bischof Thomas, einen Freund von Anba Damian, in seinem Projekt namens „Anafora“ 120 Kilometer nördlich von Kairo. Dort hat er mir seine Geschichte erzählt und seinen Eindruck von der Lage der Kopten geschildert. Anders als viele eher vorsichtige und diplomatische Kirchenmänner ist Bischof Thomas ein Freund deutlicher Worte. 

Der Bischof sagt, Ägypten brauche „weniger Religion“. „Die Religion erstickt uns in diesem Land.“ Das ist nicht die einzige erstaunliche Aussage dieses freien Kopfes.

Bischof Thomas wurde 1957 in Kairo geboren, in einer der reichen koptischen Familien. Seine Großmutter war berühmt für ihre Mildtätigkeit. Im Haus der Familie richtete sie eine Suppenküche für die Armen ein. Jeden Tag wurden die Armen an einem besonderen Hintereingang gespeist. Als Thomas 9 Jahre alt war, kam er in Konflikt mit der Großmutter. Er wollte die Armen ins Haus lassen, um sie dort zu speisen. Als die Großmutter insistierte, dass sie nur in der Suppenküche essen durften, begann der Junge, demonstrativ und aus Protest mit den Armen zu essen. Dort traf er einen Mann, der über der traditionellen Jallabia ein teures, aber schmutziges Jackett trug. Er roch schlecht und war sehr schüchtern, er hatte einen weißen Bart. Der Junge kam mit dem Mann, der Gawardy hieß, ins Gespräch. Es stellte sich heraus, dass Gawardy ein sehr belesener Mann war. Er trug immer ein Buch unter seinem Jackett mit sich herum. „Du mußt mehr lernen“, sagt er dem Jungen. Der Junge drängte seine Familie, den weisen Mann zu treffen. Doch die Großmutter insistierte: „Wir geben ihm, was er braucht, aber er kommt mir nicht ins Haus.“ Gawardy führte den jungen Thomas zu den Antiquaren in der Nähe der Kairoer Oper und zeigte ihm die Welt der Bücher. Von seinem Taschengeld konnte er sich hier eine ganze Bibliothek zusammenkaufen. „Gawardy, dieser stinkende arme Schlucker, hat mir ein ganzes Universum erschlossen.“

Anba Thomas, Bischof der Koptischen Kirche in Oberägypten    Foto: J.Lau


Eines Tages kam Gawardy nicht mehr zur Armenspeisung. Eine Woche suchte der Junge nach ihm, zunehmend verzweifelt, bis er in einer Kirchengemeinde einen Priester fand, der sich einen Mann in Jellabia und Jackett erinnerte: „Er ist tot, wir haben ihn vor zwei Tagen beerdigt. Keiner hat nach ihm gefragt. Er hatte wohl niemanden.“
Bis heute, sagt Bischof Thomas, der damals 11 war, „suche ich nach Gawardy.“ Mit seiner Großmutter hat er sich eines Tages versöhnt, „nicht aber mit der ungerechten ägytpischen Gesellschaft“. Er ist Bischof geworden, um – bildlich gesprochen – die Gawardys ins Haus zu bringen.
Er hat als Bischof ein eigenes Haus geschaffen, um dies zu tun. Es heißt „Anafora“ und liegt 120 Kilometer nördlich von Kairo auf dem Weg nach Alexandria. Eigentlich ist es eine Farm, ein Konferenzzentrum, ein Hotel und ein Kloster zugleich.
Er wollte ursprünglich nicht in der Öffentlichkeit wirken. Das Mönchsleben  war seine Sehnsucht, als er in die Kirche eintrat. Der Papst aber schickte ihn als jungen Priester zur Mission nach Kenia. Immer wieder schickte er Bittbriefe an das Patriarchat, er wolle in sein Kloster zurückkehren. Dann, 1988, kam die Order, sofort nach Kairo zurückzukehren. Statt der erhofften Rückkehr ins Kloster eröffnete der Papst ihm seine Absicht, ihn zum Bischof zu weihen.

Für den erst 31jährigen Thomas war das ein Schock, denn der weg zurück ins Mönchsleben war damit verschlossen. Er wurde nach Oberägypten geschickt, wo die meisten Kopten als arme, ungebildete und unterdrückte Landbevölkerung leben: „Als Bischof wollte ich die stützende Hand sein, die die Menschen aufrichtet, nicht die hand, die von oben herab herrscht.“ In Oberägypten habe er schnell gelernt, dass die Menschen nicht nur Nahrung und Kleidung brauchen, sondern vor allem Bildung. Er begann mit der Gründung von Schulen und Kindergärten.

Nach einer Weile wurde ihm deutlich, dass man den Menschen eine Chance geben musste, aus ihrem Umfeld zu entkommen, damit sie sie sich nachhaltig verändern konnten. So kaufte er mit Spendengeldern das Land – ein Stück Wüste an der Autobahn nach Alexandria-, wo dann nach und nach „Anafora“ entstand. In Oliven- und Palmenhainen, Mango- und Kartoffelfeldern lernen die Schüler aus Oberägypten moderne landwirtschaftliche Methoden. In der Küche und im Gastbereich können sie Fähigkeiten für den Broterwerb jenseits der Landwirtschaft erlernen. Ebenso wichtig wie diese Fähigkeiten ist aber die Erfahrung einer würdigen Behandlung. Die „Gawardys“ treffen hier auf reiche Leute, die nach Anafora kommen um sich zu erholen.

Bischof Thomas in seinem Zentrum „Anafora“      Foto: J. Lau

 

Der Bischof lehrt sie, zu den Reichen nicht aufzuschauen, sondern sich als gleichwertige Menschen zu benehmen. „Wir lehren übrigens auch die Frauen hier, dass sie den Männern gleichgestellt sind.“ Wenn sie mit dieser Einstellung zurück auf die Dörfer gehen, wo sie weder ihren Vätern noch ihren Brüdern widersprechen dürfen, finden sie dort Mentoren vor, die ihnen helfen, sich nicht wieder einschüchtern zu lassen.

Die ägyptische Gesellschaft, sagt der Bischof, brauche drei Transformationen: von der Hierarchie zur Gemeinschaft, von der Geschlechterunterdrückung zur Gleichheit, von der religiösen Rigidität zur offenen Spiritualität. „Es ist vielleicht ungewöhnlich, wenn ich das als Bischof sage, aber ich wünsche mir weniger öffentliche Religion in unserem Land. Alles wird hier zur religiösen Angelegenheit, selbst die Luft die wir atmen und das Wasser das wir trinken. Auch das Geld ist zur religiösen Sache geworden. Die Religion legt sich über alles, so dass das Land darunter erstickt. Ich bin ein Bischof, aber ich lehne es ab, alles in religöse Schubalden einzusortieren.“
Bischof Thomas war anfangs begeistert von der Revolution. Er hat das Regime Mubaraks immer verachtet und auch offen kritisiert. Er hatte die Hoffnung, dass Ägypten sich mit der Revolte der jungen Leute wieder zur Welt öffnet, dass „Ägypten wieder kosmopolitisch wird, wie es Alexandria zu seinen besten Zeiten einmal war. Und das ist auch immer noch möglich.“ Die Menschen, sagt er, haben einen Moment der Freheit erlebt, ihre Stimme zählte plötzlich, die Verjagung Mubaraks war ein Augenblick der Würde. Die an der Revolte beteiligten Christen kamen den liberalen Muslimen sehr nah während dieser Zeit.

Um so größer war der Schock darüber, dass die konservativen islamistischen Gruppen wie die Muslimbrüder und die Salafisten die Macht übernehmen konnten. Nun macht die Angst die Runde, dass die immer schon vorhandene versteckte Diskriminierung zu einer offenen Unterdrückung wird. Angst ist schlecht für die Demokratie, meint der Bischof, weil „die Hälfte der Demokratie daraus besteht, aus freien Stücken nein sagen zu können.“

Zweifellos werde das Land nun weiter islamisiert werden, und die Kopten gerieten dadurch in eine generelle Atmosphäre des Drucks. Für die Opfer der Anschläge von Nag Hammadi, Alexandria und Maspero hat es bis heute keine Anerkennung und keine Gerehtigkeit gegeben. Das nährt vor allem bei gut ausgebildeten und vernetzten Eliten das Gefühl der Hoffnungslosigkeit und den Wunsch nach Auswanderung. „Unsere Elite verläßt das Land, wie sehr ich auch dagegen rede und dage, sie sollen hier bleiben und kämpfen.“ Die Revoluion war ein Vorgeschmack der Freiheit, aber die Demokratie muss noch errungen werden. „Demokratie ist nicht einfach die Herrschaft der Mehrheit. Eine Mehrheit, die der Minderheit keinen Raum lässt, sich frei zu entfalten, ist nicht demokratisch. Demokratie funktioniert nur, wenn jeder Mensch die Verantwortung akzeptiert, den anderen diesen Raum offen zu halten, den sie brauchen.“
Die Zukunft der Kopten sieht der Bischof nicht in Minderheitenrechten: „Wir müssen für allgemeine Rechte kämpfen. Ich bin zuerst Mensch und dann Kopte. Eine Minderheit kann nicht ohne die Mehrheit überleben. Manchem liberalen Moslem fühle ich mich näher als einem verbohrten Christen. Wir müssen mit den liberalen Gruppen zusammenarbeiten, um für einen säkularen Staat zu kämpfen, der Religionsfreiheit für alle garantiert – und das heißt auch Freiheit von der Religion für diejenigen, die nichts damit zu tun haben wollen. Es ist mir ein Ärgernis, dass in meinem ägyptischen Pass steht, dass ich Christ bin. Das hat dort nichts zu suchen. Wir wollen keinen religiösen Staat, nicht einmal einen christlichen. Alle religiösen Staaten der Geschichte sind gescheitert. Wenn es in die andere Richtung geht, und die Scharia mehr Einfluss auf die Gesetze bekommt, wird das zu noch mehr Segregation und weniger Gemeinsamkeit in Ägypten führen. Die fortschreitende Islamisierung und Arabisierung unserer Gesellschaft ist gefährlich. Ägypten muss eine säkulare Gesellschaft werden, weil das allen Bürgern erlaubt, zu wachsen und sich zu entwickeln, wenn sie wollen, auch spirituell.“
Im Jahr 2009 hatte der Bischof diese Vorstellungen in einem Vortrag in den USA bereits geäußert. Danach erschienen Dutzende Artikel, in denen er zum Verräter erklärt wurde. Man drohte ihm seine Staatsangehörigkeit zu entziehen, und er erhielt auch Todesdrohungen. Er ist aber immer noch da und nimmt kein Wort zurück. Er glaubt, dass für Ägyptens Christen harte Zeiten kommen, weil die Islamisten nun am Drücker sind. Aber den Moment der Freiheit und das Erlebnis der Würde kann man den Leuten nicht mehr nehmen: „Ich warte auf die zweite Phase der Revolution, in der die Menschen wirklich Besitz von ihrem eigenen Land ergreifen.“

 

 

„Der Nationalstaat hat sich ad absurdum geführt“

Für die aktuelle Ausgabe der ZEIT habe ich mit dem Kollegen Mark Schieritz den Finanzminister Wolfgang Schäuble interviewt. Hier ein Ausschnitt, der Rest in der Tote-Bäume-Version der ZEIT an einem Kiosk Ihres Vertrauens:

DIE ZEIT: »Der europäische Einigungsprozess ist an einen kritischen Punkt seiner Entwicklung gelangt. Wenn es nicht gelingt, eine Lösung zu finden, dann wären die existenziellen Probleme der europäischen Gesellschaften nicht zu bewältigen« – kommt Ihnen dieses Zitat bekannt vor, Herr Minister?

Wolfgang Schäuble: Es passt auf viele Situationen in der Geschichte der EU und beschreibt auch die gegenwärtige Lage gut.

ZEIT: Es entstammt dem Papier zur Zukunft Europas, das Sie im Jahr 1994 zusammen mit Karl Lamers verfasst haben.

Schäuble: Sehen Sie!

ZEIT: Muss es nicht zu denken geben, dass Europa nun schon seit 18 Jahren über dieselben Probleme redet und sie offenbar nicht gelöst bekommt?

Schäuble: Das ist doch etwas verkürzt. Anders als heute ging es in den neunziger Jahren vor allem um die Frage, ob die Europäische -Union erweitert oder vertieft werden soll. Wir haben gesagt, man muss beides machen. Heute haben wir es mit anderen Herausforderungen zu tun. Aber richtig ist immer: Europa entwickelt sich Schritt für Schritt und normalerweise ohne den Big Bang, denn die Menschen sind nur schrittweise dazu bereit, bestimmte Zuständigkeiten auf die europäische Ebene zu übertragen. Das ist ein mühsamer Prozess, der uns aber schon weit getragen hat.

ZEIT: Warum ist er so mühsam?

Schäuble: Es hat etwas damit zu tun, dass demokratische Wohlstandsgesellschaften das Wort »Veränderung« nicht sehr schätzen. Es gibt halt Besitzstände, und die werden verteidigt. Niemand will den Flughafen in seiner Nähe haben, aber alle wollen fliegen. Europa ist ein andauerndes Veränderungsprojekt.

ZEIT: Vielleicht ist die Zurückhaltung ja auch Ausdruck einer gesunden Skepsis gegenüber politischen Experimenten.

Schäuble: Das glaube ich nicht. Es ist doch so, dass die Zustimmung zu Europa eher zu-genommen hat.

ZEIT: Wirklich? In Griechenland und Spanien gibt es Proteste gegen die Sparauflagen aus Brüssel, in Deutschland gegen den Rettungsschirm ESM.

Schäuble: Proteste gehören zu einer Demokratie, und viele der jetzt beschlossenen Maßnahmen sind in der Tat für den Einzelnen hart und dementsprechend oft auch unpopulär. Entscheidend ist aber doch der Wille der Mehrheit. Und immer wenn die Mehrheit erkennt, was auf dem Spiel steht, ist sie bereit, etwas zu tun. Nehmen Sie die Wahlen in den Niederlanden, bei denen die Euro-Skeptiker abgestraft wurden. Auch die zweiten Wahlen in Griechenland oder gerade jetzt die spanischen Regionalwahlen haben bewiesen: Je konkreter die Gefahr, desto größer die Reformbereitschaft.

ZEIT: Trifft das auch für Deutschland zu? Die Freien Wähler wollen mit einem euroskeptischen Programm in den Bundestag einziehen.

Schäuble: Und sie werden scheitern. Genau wie Hans-Olaf Henkel oder wer auch immer. In Deutschland konnte bislang keine Partei mit einem Anti-Euro-Kurs bei Wahlen punkten. Als versucht wurde, dies zum Thema bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus zu machen, haben sich die Wähler abgewandt. Europa kommt immer in Krisen wirklich voran, das war schon immer so.

ZEIT: Das wäre dann ein Europa, das die Finanzmärkte erzwingen. Wäre es nicht ein besserer Ausgangspunkt für das friedliche Zusammenleben der Völker, wenn eine derart gravierende Entscheidung in freier Übereinkunft getroffen würde?

Schäuble: Es ist doch klar und zwingend, dass ohne die Zustimmung der Völker und der Parlamente überhaupt nichts in Europa passiert. Aber manchmal braucht es eben einen Anstoß, einen Anlass, um etwas weiterzuentwickeln. Sonst säßen wir wohl immer noch in der Steinzeit, denn so kalt waren die Höhlen ja vielleicht auch nicht. Nach meinem Verständnis von demokratischer Politik kann man einen großen Plan nur mit Beteiligung der Bevölkerung umsetzen und muss ihre Bedenken und Sorgen berücksichtigen.

ZEIT: Trotzdem bauen Sie an einem europäischen Superstaat. Wie passt das zu einem konservativ-skeptischen Menschenbild?

Schäuble: Es geht gerade nicht um einen Superstaat, sondern um die Fortentwicklung der Idee des Nationalstaats. Diese sehr europäische Idee hatte sich schon mit dem Morden des Ersten Weltkriegs ad absurdum geführt, daher ja auch die ersten paneuropäischen Bewegungen in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Es bedurfte aber eines weiteren großen Kriegs, bevor die Idee in die Praxis umgesetzt wurde. Was wir in Europa im Bereich der effizienten Zuordnung von Souveränität zwischen Kommunen, Regionen, Staaten und der europäischen Ebene machen, ist hoch-innovativ – und unter den Bedingungen der Globalisierung wichtiger denn je.

ZEIT: Die Kriegserzählung verliert für Jüngere an Überzeugungskraft. Wie kann man heute Europa begründen?

Schäuble: Ich vermute mal, dass dies eine rhetorische Frage ist. Klima, Rohstoffe, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Terror und Ähnliches mehr fallen einem schnell als Antwort ein. Aber auch bei der Finanzmarktregulierung können Sie allein wenig ausrichten. Ich war gerade in Asien, dort beobachtet man sehr genau, was wir in Europa machen.

ZEIT: Ist es dann nicht riskant, Europa durch hochtrabende Integrationspläne zu gefährden?

Schäuble: Der Euro hat noch keinen umfassend adäquaten institutionellen Rahmen. Das holen wir jetzt nach. Damit gefährden wir Europa nicht, sondern stärken es.

ZEIT: Sie haben vergangene Woche vorgeschlagen, einem Brüsseler Superkommissar für Währung ein Vetorecht über nationale Staatshaushalte einzuräumen. Ist es demokratisch, das Budgetrecht des Parlaments auszuhöhlen?

Schäuble: Da wird nichts ausgehöhlt. Die Idee ist weder neu noch revolutionär. Der Kommissar kann keine beliebigen Entscheidungen treffen. Er soll dafür sorgen, dass die Regeln eingehalten werden, denen die Mitgliedsstaaten und zumeist auch ihre Parlamente bereits verbindlich zugestimmt haben. Nicht mehr und nicht weniger.

ZEIT: Wie lange werden die nationalen Parlamente noch die Haushalte festlegen?

Schäuble: Irgendwann wird das Europäische Parlament das Budgetrecht wahrnehmen. Dazu müssen aber noch viele Voraussetzungen erfüllt sein – vor allem müssen es die Menschen als ihre Vertretung annehmen. Wir könnten jedoch schon viel früher mit der Stärkung der Demokratie in Europa beginnen und den Präsidenten der Kom-mission direkt vom Volk wählen lassen.

ZEIT: Sie glauben, dass sich die Deutschen für den Kommissionspräsidenten interessieren?

Schäuble: Wenn es einen Wahlkampf gibt, schon. Das wäre eine Urerfahrung, die bleibt. Sie könnte bei der Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit helfen. Schauen Sie doch, mit welchem Interesse die Menschen eine Oberbürgermeisterwahl in Stuttgart verfolgen!

ZEIT: Je mehr Kompetenzen Sie aus der Hand geben, desto größer die Gefahr, dass nicht im deutschen Interesse entschieden wird. Viele Berliner Positionen sind in Europa nicht mehrheitsfähig.

Schäuble: Daran arbeiten wir. Die Garantie allerdings, dass sich immer die deutsche Po-si-tion durchsetzt, kann niemand geben. Demokratie bedeutet, darauf zu vertrauen, dass die Mehrheit schon das Richtige tut. Das ist das Risiko der Freiheit. Und als es hieß, dass am deutschen Wesen die Welt genesen solle, war es sicherlich nicht zu unserem Besten.

ZEIT: Im Fall der Europäischen Zentralbank (EZB) wird dieses Vertrauen sehr strapaziert. Für die meisten Bundesbürger ist die Politik der Notenbank ein Bruch mit deutschen Stabilitätsidealen.

Schäuble: Der EZB zu unterstellen, sie sei nicht stabilitätsbewusst, hieße, die Realität zu ignorieren. Sie agiert innerhalb ihres Mandats.

ZEIT: Sie sagen, dass die Krise Europa zusammenführt. Entzweit sie nicht den Kontinent? Vor allem Deutschland und Frankreich finden nicht zusammen.

Schäuble: Im Moment sind wir mit der Situation konfrontiert, dass es bei uns wirtschaftlich – noch – sehr gut läuft, während andere – noch – Probleme haben. Aber nur Frankreich und Deutschland gemeinsam können verhindern, dass in Europa der Norden und der Süden auseinanderdriften.

ZEIT: Ist Frankreich Süden oder Norden?

Schäuble: Auch für die französische Gesellschaft gilt, dass sie noch nicht sehr offen für Veränderungen ist. Nicolas Sarkozy hat im Wahlkampf einen radikalen Bruch versprochen, ist aber sehr schnell eingefangen worden. François Hollande hat einen anderen Wahlkampf geführt, vergleichbar mit dem von Gerhard Schröder im Jahr 1998. Schröder hat damals eine Menge Dinge getan, von denen er wusste, dass sie falsch sind. Das musste er dann später korrigieren. Auch Hollande hat eine Menge Erwartungen geweckt. Die kann er jetzt nicht einfach enttäuschen, er muss sein Lager zusammenhalten. Sie können jedoch davon ausgehen, dass wir Europa gemeinsam voranbringen werden.

ZEIT: Aber welches Europa? Sie wollen neue Regeln durchsetzen, Frankreich will mehr Geld.

Schäuble: Die Franzosen wissen, dass die Währungs-union nur richtig funktionieren kann, wenn Zuständigkeiten an Brüssel abgegeben werden – auch wenn sie aus historischen Gründen etwas zurückhaltender sind als die Deutschen. Nicolas Sarkozy hatte das verstanden, und ich glaube, François Hollande hat es auch verstanden.

(…)

ZEIT: Sie schlagen sich jetzt seit fast drei -Jahren mit dieser Krise herum. Das haben Sie auch Helmut Kohl zu verdanken, der eine gemeinsame Währung einführte, ohne die politischen Rahmenbedingungen dafür zu schaffen.

Schäuble: Für eine politische -Union gab es damals keine Mehrheit. Deutschland und die anderen europäischen Staaten standen vor der Wahl, jetzt mit der gemeinsamen Währung anzufangen oder überhaupt nicht anzufangen. Kohl hat angefangen, und das war richtig. Wir hätten sonst heute den Euro nicht.

ZEIT: Darüber wären in Deutschland viele wahrscheinlich ganz froh.

Schäuble: Ich nicht, weil ich glaube, dass Europa und gerade auch Deutschland sehr von der Wäh-rungs-union profitieren.

ZEIT: Helmut Kohl hat sich kürzlich darüber beklagt, dass den heutigen Regierenden die Größe fehle.

Schäuble: Er ist nicht der einzige Helmut, der das so sieht. Die Älteren machen sich immer Sorgen, dass die Nachfolger nicht so groß sind wie sie selber. Das war in der Geschichte oft so und ist noch öfter widerlegt worden.

 

 

 

Das Versagen der amerikanischen Außenpolitik (im Präsidentschaftswahlkampf)

Zweiter Eindruck der dritten und letzten Präsidentschaftsdebatte, nachdem ich eine Nacht drüber schlafen konnte: Wow, was für eine Enttäuschung. Gut, Obama „hat gewonnen“, wie es fast überall heißt. Freut mich, ich möchte ihn noch für eine weitere Amtszeit am Ruder sehen. (Hat er denn wirklich gewonnen? Romney wusste doch, er kann hier nicht „gewinnen“, wg. Commander in Chief, OBL tot, Weltläufigkeit etc. Er musste nur zeigen, dass er kein Volltrottel ist und kein Wiedergänger von Bush Junior in seiner ersten Amtszeit: dass er keinen Krieg vom Zaun brechen wird. Und das ist ihm gelungen. Hat er damit nicht vielleicht gewonnen, was zu gewinnen war?)

Mit einem gewissen Abstand bleibt ein schales Gefühl. Das war also die große Debatte über amerikanische Außenpolitik? Obama sagt, ich habe Amerika in Sicherheit geführt: Irakkrieg abgewickelt (hatte Bush schon begonnen), Afghanistankrieg dito. Osama tot. Ich habe Iransanktionen ermöglicht, die endlich wirken. Ich bin Israels bester Freund, auch wenn das Gegenteil behauptet wird (guter Punkt: anders als Romney habe ich keine Fundraiser in Israel gemacht, sondern bin nach Yad Vashem und Sderot gegangen). Und das war es dann auch schon so in etwa.

Romney konterte mit dem Vorwurf, Obama sei auf eine „Entschuldigungstour“ gegangen und habe dabei allerlei problematische Länder aufgesucht (Europa, Ägypten), während er Israel vermieden habe. Er habe auf die iranische Grüne Bewegung zu spät und nicht deutlich genug reagiert (stimmt!), er lasse Entschlossenheit gegenüber dem iranischen Atomprogramm vermissen (Quatsch), während er, Romney, Ahmadinedschad wegen „Völkermord“ zur Rechenschaft ziehen werde (???). Was Ägypten und Syrien, Libyen, Tunesien und Jemen angeht, hatte Romney wenig mehr zu bieten als ein warnendes „Oioioi, da sind Islamisten auf dem Vormarsch“. Zwischen Al-Kaida und Morsis Muslimbrüdern schien er nicht viel Unterschiede zu sehen. Mit China werde er, Romney ordentlich Schlitten fahren, wegen der „Währungsmanipulation“ und des Stehlens von amerikanischen Arbeitsplätzen und Patenten.

Diese Karte zeigt die Welt, wie sie in der Debatte erscheint. Gefunden bei Matt Yglesias.

Zunächst einmal fällt an dieser Auseinandersetzung eine Provinzialität auf, die für die letzte globale Supermacht ein wenig absurd ist. Israel, Iran, Islamismus, fast alles kreiste um die drei I’s. Neben dem Nahen Osten wurde nur China erwähnt, als einziges ostasiatisches Land. Und wenn, dann nur als frecher Emporkömmling, den man durch genügend hartes Auftreten wieder in die zweite Reihe zurückschimpfen muss.

Das ist lachhaft. Spricht man so über seinen Banker? Über die größte aufstrebende Industrienation? Die all die schönen Gadgets herstellt, die unseren „westlichen“ Lebensstil ausmachen.

Indien – die weltgrößte Demokratie, das Land mit der größten muslimischen Bevölkerung weltweit, ein trotz Schwierigkeiten erfolgreicher multikultureller Staat, eine aufstrebende Wirtschaftsmacht – wurde mit keinem Wort erwähnt, obwohl es auch mit einem I anfängt.

Europa kam nur vor in Form des Vorwurfs Romneys an Obama, Amerika bewege sich „in Richtung Griechenland“. Auch das ist lächerlich und unwürdig. Europa ist der wichtigste Wirtschaftspartner und trotz seiner momentanen Schwierigkeiten der größte Wirtschaftsraum der Welt. Was sich in Europa abspielt zwischen Zerfallsgefahr und neuer Stabilitätskultur wäre wohl ein, zwei Sätze wert gewesen.

Lateinamerika: Kein Thema. Reiseerlaubnisse auf Kuba: Fehlanzeige. Brasiliens Aufstieg: nie gehört.

Myanmars erstaunlicher Weg aus der Diktatur: Nope.

Russland: Putin nix gut (Romney), sonst ebenfalls kein Thema.

Afrika unterhalb des Magreb und jenseits von Islamismus (Mali wurde erwähnt, weil sich dort Al-Kaida festzusetzen droht): Nö.

Beide Kandidaten sind fixiert in der sträflich beschränkten post 9/11-Weltsicht. Sie sind insofern beide Epigonen von George W. Bush, nur mit unterschiedlichen Konsequenzen. Beide haben den Tunnelblick auf die drei I’s, der 90 Prozent des Weltgeschehens ausblendet.

Die Präsidentschaftswahlen der USA sind ein globales politisches Schauspiel, das weltweit verfolgt wird. Darum war dieser Montagabend ein Schlag ins Kontor. Die Welt hat eine Lektion darüber erhalten, dass die Führungsmacht des Westens nicht versteht, dass nichts mehr so ist wie es einmal war.

 

 

 

Die Vergiftung der deutschen Integrationsdebatte

 Diesen Vortrag habe ich letzte Woche beim „Berliner Integrationsforum“ gehalten. Regelmäßige Leser dieses Blogs werden einiges wiedererkennen.

Wo steht die deutsche Integrationsdebatte? Ich neige zum Optimismus, trotz allem. Warum?

Da Herkunft in dieser Debatte eine so große Rolle spielt, will auch ich sie hier einmal in Anspruch nehmen, um meine Argumente zu untermauern. Ich spreche also als artgerecht aufgewachsener „Biodeutscher“ (Aua!) aus der westdeutschen Provinz.

Ich komme aus einem dörflich-kleinbürgerlichen Milieu Westdeutschlands, in dem das, was man heute Rassismus nennt, in den siebziger und achtziger Jahren noch zum normalen Umgangston gehörte. Rassismus hätte man es damals natürlich nicht genannt.

Man war stolz auf seine Vorurteile, und wer irgendetwas dagegen sagte, dass man gegen Itaker, Spanier, Türken und Griechen wetterte, hatte wahrscheinlich keinen Humor.

Gegen Juden sagte man lieber nichts (mehr), jedenfalls nicht laut, denn die konnten uns nachtragender Weise die Sache mit Hitler nicht vergessen. Alle anderen waren Freiwild für den Stammtischhumor.

Es war ein kenntnisfreier, gewissermaßen unschuldiger und ursprünglicher Rassismus, der alle Andersartigen gleichmäßig traf, einfach nur weil sie anders waren. Es war nicht persönlich gemeint, pures Ressentiment, Fiesheit gegen jedermann. Auch diejenigen, die sich im realen Leben sehr korrekt und nett mit den wenigen Fremden auf dem Dorf und in der Kleinstadt beschäftigten, zogen dabei mit.

Der Kern der Sache war das Unbehagen an gesellschaftlicher Veränderung. Und im Verfluchen der anderen leuchtete auch viel deutscher Selbsthass auf. Sehr berechtigter deutscher Selbsthass, möchte ich sagen: der Selbsthass eines unglücklichen Volkes, das sich selbst im trüben Licht der Katastrophengeschichte des letzten Jahrhunderts sehen musste, ein Selbsthass, der sich am Objekt der schwächeren, ärmeren, neuen Unterschicht der Einwanderer abreagierte.

Dieses Phänomen ist irgendwann ausgestorben. Die Deutschen in meinem Herkunftsmilieu wollen sich so nicht mehr sehen und sie können es nicht mehr hören. Sie sind herumgekommen, sie waren auf guten Schulen (oder ihre Kinder jedenfalls), sie haben sich abgeregt. Viele von ihnen kennen ein paar Türken, Araber, Vietnamesen, seltener, muss ich sagen: Juden.

Die Ausländerwitze, die man in den siebziger und frühen achtziger Jahren in diesem Milieu noch normal fand, wären heute absolut indiskutabel. Es gibt Schwiegertöchter und Schwiegersöhne mit Migrationshintergrund, Freunde der Kinder haben Migrationshintergrund – oder gar, wie ich mit Erstaunen feststellen musste: in meinem Fall sogar die eigenen Kinder.

Deutschland ist auf dem Weg des Sich-Abregens weltoffener, entspannter, welterfahrener geworden. Die Veränderungspanik hat abgenommen.

So sehe ich es, trotz unserer erregten Debatten der letzten Jahre.

Gut so.

Trotzdem läuft hier etwas schief. Die gesellschaftliche Kommunikation leidet an einer schleichenden Vergiftung.

Mein Grund-Optimismus macht zur Zeit eine schwere Phase durch. Manchmal habe ich den Eindruck, ich erliege meinem eigenen Wunschdenken und es geht eigentlich überhaupt nicht voran. Ich denke dann, ich mache mir das nur vor, weil ich mir das eigene Land schön singen will.

In den letzten beiden Jahren war ich viel damit beschäftigt, auf türkisch-deutsche, arabisch-deutsche, iranisch-deutsche, und deutsch-jüdische Freunde einzureden, sie sollen sich bitte nicht verrückt machen lassen. Sie sollen hier bleiben und weitermachen.

Wie oft habe ich gehört, jetzt reiche es, man halte es nicht mehr aus, man gehe nun endgültig weg, in die Türkei, nach Amerika, nach Israel… Und manchmal sind das keine leeren Drohungen geblieben. Meist jedoch war die Auswanderungsdrohung nicht ernst gemeint.

Sehr wohl ernst gemeint war die Botschaft der Verletzung und Enttäuschung. Ich habe bei manchen Freunden und Bekannten eine Art innere Kündigung ihrer Liebe zu Deutschland erlebt. Das ist etwas Gefährliches.

Unsere „Integrationsdebatte“ mit dem Höhepunkt Sarrazin hat diesen „tipping point“ vorbereitet. Aber die Enthüllungen über die „Dönermorde“ haben dann für viele den Ausschlag gegeben.

Und die jüngste Debatte über Beschneidung hat zu tiefer Verunsicherung geführt – eine Verunsicherung, die viele aus der Mehrheit nicht verstehen. Dazu gleich mehr.

Es wird unterschätzt, wie erschüttert viele türkische Deutsche von der NSU-Mordserie, vom Versagen der Behörden und der Medien bis heute sind. Schon die letzten Jahre einer zunehmend als Demütigung und Kujonierung empfundenen “Integrationsdebatte” haben viel Schaden angerichtet. Der Erfolg des Buchs von Thilo Sarrazin wurde als eine Abstimmung gegen Türken an der Ladenkasse empfunden. Mehrere türkische Bekannte haben mir erzählt, dass sie in Folge dieser Debatte Freunde verloren haben. Es wurde nicht verstanden, dass sie Sarrazins Buch und seine Interventionen – von den “Kopftuchmädchen” über die “Gemüsehändler” bis zu den “belgischen Ackergäulen” als persönliche, ehrabschneidende Angriffe empfanden. Und dass die breite Zustimmung der Bevölkerung die Sache erst recht schlimm machte.

Wenn sie das ihren Freunden sagten, hieß es oft, hab dich doch nicht so, Du bist doch nicht gemeint! Doch, ich bin gemeint, antworteten sie, mindestens innerlich. Mich und meine Leute meint ihr, wenn ihr diese Buch kauft.

Man fühlte sich von Sarrazin und seinem begeisterten Publikum aus Deutschland herausdefiniert. Das Wort Ausgrenzung habe ich nie gemocht. Es wird inflationär gebraucht und hat einen moralistischen Ton. Aber hier passt es. Viele meiner Bekannten mit so genanntem Migrationshintergrund, bestens integriert, haben in diesen letzten Jahren Ausgrenzungserfahrungen gemacht.

Die Enthüllung über die Mordserie traf auf diese Gefühlslage. Ohnehin angeknackstes Vertrauen war nun bei vielen ganz dahin: Die Hinrichtung von Türken, wie sich nun herausstellte, durch Neonazis, war jahrelang den Opfern und ihrem mutmaßlichen “Milieu” zugeschrieben worden. Im Begriff “Dönermorde” schien der antitürkische Rassismus der Behörden und der Medien zu sich zu kommen.

Gerade bei gut ausgebildeten und erfolgreichen deutschen Türken trifft man derzeit auf eine Mischung aus enttäuschter Liebe zu ihrer Heimat, auf Wut, Trauer und allgemeine Aufgewühltheit, in einem Maß, dass einem Angst um dieses Land und seinen Zusammenhalt machen kann.

Wir verlieren so die Besten. Auch diejenigen, die nicht weggehen, schließen innerlich mit Deutschland ab.

Ich habe also dagegen geredet und gesagt, schaut doch mal, das ist zwar nicht schön, das ist alles hässlich, aber es sind doch Rückzugsgefechte. Vergleicht das mal mit wirklichem, offenem Rassismus! Das Sentiment der deutschen Debattentreiber wie Sarrazin hat so was Verklemmtes und Verschwiemeltes, weil sie ja wisssen, dass es politisch nicht wirksam wird. Die gesamte politische Klasse hält doch dagegen. Merkel hat die Sache gleich mit ihrem „nicht hilfreich“ gekillt. Und dann Wulff mit seinem Islam-Diktum, gegen die BILD und die FAZ… Wir haben keine rechtspopulistische Partei in Deutschland! Alle unsere Nachbarn haben eine!

So richtig tröstlich hat das nicht gewirkt.

Seither bin ich über meine eigene Theorie ins Stutzen geraten, mit der ich mir bisher immer erklärt habe, warum das so ist, dass Deutschland keine rechtspopulistische Partei hat – ein Umstand, auf den ich einigermaßen stolz bin.

Meine Theorie darüber, warum Deutschland keine rechtspopulistische Partei hat wie alle unsere Nachbarn – keine Partei vom Typ Front National, SVP, Folkeparti oder PVV, besteht aus zwei Elementen.

Das erstere ist banal: Das Rechte ist tabuisiert, herausgedrängt aus der wohlanständigen Mitte in die Außenbezirke des Politischen. Analog zu dem, was ich anfangs berichtet habe über die Inakzeptabilität eines offenen Rassismus in der Mitte der Gesellschaft: Populismus geht in Deutschland nur noch links. Auch der kann sich übrigens mit xenophoben und rassistischen Motiven verknüpfen, wenn Sie es nicht glauben, lesen Sie mal die Bücher von Oskar Lafontaine!

Aber es ist undenkbar, dass eine einflußreiche Politikerin hierzulande für ein Kippaverbot einträte wie Marine Le Pen das kürzlich getan hat. Und ich prophezeie, dass aus diesem Grund auch in absehbarer Zeit die Kopftuchverbote in Deutschland fallen werden. Man wird das abräumen wie so viele andere Angstregelungen aus der Übergangszeit, wie etwa auch das Verbot der Doppelstaatsbürgerschaft. Man wird einsehen, dass Loyalität zu unserer Gesellschaft und den Werten sich weder am Kopfschmuck noch an der Zahl der Pässe festmachen lässt.

Das zweite Element meiner Erklärung geht so:

Wo andere Länder eine rechtspopulistische Partei haben, haben wir in Deutschland die „Integrationsdebatte“. Über „Integration“ zu reden, das muss man heute schon betonen, war einmal ein Fortschritt. In dem Wort liegt ja die Akzeptanz, dass der zu Integrierende bleibt und dazugehören soll. In der Geschichte des Einwanderungslandes Deutschland war es eine historisch wichtige Schritt, das anzuerkennen.

Heute aber empfindet man diese Debatte seitens derjenigen, über die gesprochen wird, oft als Schikane und Falle. Immer neue Kriterien für Integration lassen den Eindruck zurück: Hier soll entgegen dem Sinn des Begriffs eigentlich eine unüberwindliche Differenz ausgedrückt werden. Anders als der Begriff suggeriert, ist die Integrationsdebatte eine Ausschlussdebatte, die am Ende die Pointe hat aufzuzeigen, warum ihr hier nie dazugehören werdet. Integration ist ein Distanzmarker geworden. Das Wort ist unbrauchbar für seinen ursprünglichen Zweck, und es wird darum weithin abgelehnt. Zu Recht, denn um Integration geht es gar nicht mehr: das setzt noch das Bild einer selbstgewissen Mehrheit voraus, die den Neuankömmlingen und ihren Kindern die Regeln vorgibt, nach denen sie sich integrieren können.

Von diesem Punkt aus spricht Bürgermeister Buschkowsky in seinem Buch. Aber das ist eine Retro-Fantasie: In den Siebzigern hätte es vielleicht funktioniert nach diesem Maßstab zu integrieren, aber damals war Integration ja eben nicht gewollt. Die Einwanderer sollten separat bleiben, damit ihnen die Heimkehr nicht schwer fiele: Re-Integration in ihre Herkunftsländer, das war das (illusorische) Ziel.

Heute ist die Vorstellung passé, die eingeborene Mehrheit gebe einer zugereisten Minderheit die Regeln vor. Wozu sollen wir denn die hier geborenen, hier zur Schule und zur Uni gehenden Kinder von Einwanderern und Alteingesessenen rechnen? Sie sind vielerorts die Mehrheit. Sie sind die Eingeborenen.

Wozu rechnen dann etwa meine eigenen Kinder, die einen iranischen und einen deutschen Opa haben und eine Mutter mit doppeltem Pass? (Wobei der Iraner ein Exilant ist, den sein eigenes Land verfolgt, und der deutsche Opa ein Vertriebener war, der im heutigen Polen geboren wurde.)

Ich kann es Ihnen sagen: So lange meine Kinder gut in der Schule sind, sind sie Deutsche. Würden sie Ärger machen, würde man vielleicht beginnen, ihren „Hintergrund“ durchleuchten.

Es geht nicht mehr um Integration, sondern um Partizipation von Menschen mit verschiedensten Mix-Identitäten.

Übrigens: Ich mag das Wort Identität nicht besonders. Es ist ein Plastikwort. „Identitäten“ sind entweder aus spannenden, schönen, traurigen Geschichten zusammengesetzt, oder sie sind bloße, langweilige, ideologische Behauptungen darüber, wer man ist. Identitäten sind oft nur Anmaßungen ohne viel Inhalt: die „christlich-jüdische Identität“ unseres Landes, die gerne behauptet wird – dass ich nicht lache! Man muss sich nur die Beschneidungsdebatte vor Augen halten, um zu erkennen, was das für ein Quatsch ist.

Ich habe mich lange gegen die Auffassung gewehrt, Islamophobie und Antisemitismus hätten bedeutende Überschneidungsflächen. Seit der Beschneidungsdebatte habe ich das Gefühl, es ist eben doch ein und das Gleiche.

Morgens im Deutschlandfunk hören zu müssen, wie wohlmeinende deutsche Ärzte gleich zwei Weltreligionen freundliche Angebote machen, sich endlich bitte, bitte auf das zivilisatorische Niveau des Kölner Landgerichts hinaufhieven zu lassen, das war dann doch sehr erhellend. Jüdische Teilnehmer verwahrten sich gegen die Unterstellung, sie seien traumatisiert. Es half nichts. Der deutsche Therapeut wußte es besser.

Leserbriefschreibern und Kommentatoren quillt der gesunde Menschenverstand aus den Tasten, dass es keine, aber auch gar keine akzeptable Begründung für die “Verstümmelung” von Knaben durch Vorhautentfernung gebe.

Religiöser Analphabetismus wird mit erstaunlichem Stolz als Common Sense spazieren geführt. Irre, was man so alles an Vergleichen hört: Abtreibung, Ohrfeige, kosmetische Ohrenkorrektur… Das großmütige Angebot, man könne Beschneidung verbieten, aber straffrei lassen, wie eben die Abtreibung. Und dem Vorschlagenden fällt gar nicht mehr auf, dass damit eine Ritualhandlung aufgrund eines religiösen Gebots, die der Aufnahme eines neuen Lebens in die Gemeinschaft dient (und der Feier des Bundes mit Gott), auf die gleiche Stufe mit der Beendigung menschlichen Lebens gestellt wird. Und wie das wohl bei den Betroffenen ankommt, dass ihre Handlung mit einer Tötung verglichen wird.

Geht es womöglich gar nicht um die Juden und die Muslime? Ist dies wieder einmal eine – diesmal knisternd pornographisch aufgeladene –  Orgie der Selbstbestätigung? Der faszinierte Blick auf den beschnittenen Penis der anderen lässt uns in Gewissheit erstarren, dass wir aufgeklärten Mehrheitsmenschen den Längsten haben.

Mit heiligem Ernst beschäftigt sich ein Land wie Deutschland Monate lang mit anderer Leute Geschlechtsorganen. Man fasst es nicht. Andererseits: Deutsche wollen die Unversehrtheit jüdischer und muslimischer Penisse per Gesetz garantieren. Macht nichts, wenn zu diesem Zweck die Eltern und die Ärzte, die an “barbarischen Bräuchen” festhalten, kriminalisiert werden.

Alle sollen so werden wie wir. Darum gehts es letztlich. Ja, warum auch nicht: Es gibt ja nun wirklich keinen Grund, anders zu sein oder anderes zu glauben, denn wir sind das zwar nicht das auserwählte, aber das aufgeklärte Volk. Indem wir ihre Religionen kriminalisieren, geben wir den Juden und den Muslimen eine Chance, sich endlich nach Jahrtausenden von ihren archaischen Praktiken zu distanzieren.

Wir Deutschen sind die Guten: Eine Komiker-Nation, wie die Kanzlerin treffend feststellte, im Einklang mit sich selbst.

Komisch nur, dass keiner lacht.

So viel zur deutschen Identität.

Aber auch wenn ich von der „muslimischen Identität“ höre, muss ich innerlich kichern: Identisch womit? Mit welcher Rechtsschule, welcher Konfession, welcher historisch-geografischen Prägung? Sufi oder Salafi? Konvertit oder wiedergeborenener Muslim? Muslimischer Atheist? Anti-Muslim?

Ich kenne keine zwei Muslime, die „identisch“ sind. Ich kenne viele, die andere Muslime für ganz schlimme Heuchler, Verwässerer, Fanatiker, Häretiker, Holzköpfe halten. Türken haben selten hohe Meinungen von Arabern und umgekehrt, und Iraner halten ohnehin alle anderen im Nahen Osten für kulturlose Völker (außer vielleicht die Juden, die auch schon ein paar Jahrtausende Geschichte haben, aber das geben nur wenige zu).

Also: Geht mir weg mit euren Identitätsbehauptungen! Identität ist nicht abendfüllend. Ganz mit uns identisch werden wir mit Sicherheit an einem Punkt unseres Lebens: Wenn es zuende ist. Tote sind mit sich identisch. Ein Merkmal des Lebens ist es, nicht mit sich identisch zu sein.

Aber ich schweife ab.

Ich wollte eigentlich sagen: Ich bin in unseren Debatten für maximale Offenheit, auch für verletzende Positionen. Ich habe lieber eine Debatte als eine rassistische Partei.

Ich halte das für einen entscheidenden Punkt zum Verständnis der deut­schen und europäischen Debatten über den Islam: Sie handeln in Wahrheit nicht wirklich vom Islam als Religion. Man kann die Leidenschaften, die dabei am Werk sind, wohl kaum aus einem Interesse am Verstehen einer Weltreligion ver­stehen, die (als Teil Europas, nicht als sein Gegenüber) immer noch neu ist. In erheblichem Maße dient die Debatte über den Islam der Selbstvergewis­serung einer verunsicherten Mehrheitsgesellschaft.

Es geht bei der „Islamkritik“min­destens so sehr um die deutsche, die europäische, die christliche, die säku­lare Identität wie um den Islam.

Das ist für sich genommen weder irrational noch illegitim. Es gibt Gründe für diese Verunsicherung, es gibt auch Gründe, die die „Islamkritik“ antreiben – und ihr die Leser zutrei­ben.

Ich sehe Deutschland in der Situation eines Nach-Einwanderungslan­des. Das Wort ist nicht schön, aber es beschreibt die Wirklichkeit: wir leben in einer post-migrantischen Situation. Wir debattieren also nicht mehr unter einem Einwanderungsdruck: Der Wanderungssaldo Deutschlands mit der Türkei ist seit Jahren negativ. Beginnend im Jahr 2006 kehrte sich der Trend um: Mehr Menschen zogen von Deutschland in die Türkei als umgekehrt. 2009 gingen bereits 10.000 mehr Menschen von Deutschland in die Türkei als vice versa.

Das ist nur ein Beleg dafür, dass Deutschland (jedenfalls für Türken) kein Einwanderungsland mehr ist. Doch just in dem selben Moment nehmen die Debat­ten über die Eingewanderten und ihre Nachkommen immer schärferen Charakter an. Kann es da einen Zusammenhang geben?

Das ist nicht ungewöhnlich: Vielleicht kann man im Amerika der Zwischenkriegszeit des letzten Jahrhunderts einen Präzedenzfall sehen. Damals wurden die Gren­zen für Immigration weitgehend geschlossen – nach einer großen Welle zwi­schen 1870-1924, die Iren, Deutsche, Polen und andere Osteuropäer und Italiener in Millionenzahlen nach Amerika gebracht hatte.

Dann ging man daran, mit viel Druck die Integration/Assimilation der Eingewan­derten zu betreiben.

Ich will die Analogie nicht zu weit treiben. Nur soviel: Europa insgesamt scheint, nach der gigantischen Einwanderungswelle der Nachkriegszeit, die gespeist wurde durch Postkolonialismus und Wirtschaftsboom, ebenfalls in einer Phase der Schließung zu sein. Schließung im Wortsinne durch gesetz­liche Erschwerung von Zuwanderung. Und im übertragen Sinne als Ver­such, die jeweilige Identität zu bewahren (was auch immer das jeweils sei). Der Erfolg der rechtspopulistischen Anti-Einwanderer-Parteien überall in Europa spricht dafür.

Überall? Eben nicht. Deutschland hat keine solche Partei. Deutschland hat statt dessen eine Debatte über „Integration“. Mir ist das einstweilen lieber so, wie hässlich die Debatte auch sein möge. Bei aller Kritik an der „Islamkritik“ sollte das nicht vergessen werden.

In Deutschland kann ich meinem Unmut an der Einwanderungsgesellschaft nicht an der Wahlurne Ausdruck verleihen. Alle Parteien – selbst die Union – haben ihren Frieden damit gemacht, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Es gibt bei uns in der politische Klasse keine erfolgreichen Hetzer. Alle Zündler sind politisch gescheitert und aussortiert worden. Fragen Sie mal Roland Koch über seinen letzten Wahlkampf.

Was ich aber tun kann, um meinem Unmut, meiner Angst, meiner Überforderung Ausdruck zu geben, ist ein Buch zu kaufen und zu Lesungen zu gehen, bei denen diesem Gefühl Ausdruck verliehen wird.

Das ist besser als eine Partei zu haben, die monothematisch damit Stimmen sammelt. Aber es ist nicht harmlos.

Vergiftete Kommunikation ist eine schlechte Voraussetzung, wenn eine Gesellschaft eigentlich darangehen muss, ein neues WIR auszuhandeln. Weil man sich dann nur in wechselseitigen Beschimpfungen ergeht: Integrationsverweigerer! Rassist!

Ich halte nichts davon, Buschkowski als Rassisten zu bezeichnen. Nicht nur aus dem strategischen Grund, dass man ihn mit einem so überzogenen Vorwurf zum Helden eines Publikums macht, das ohnehin der Meinung ist, die Wahrheit könne man in diesem Land nicht mehr sagen, weil man dann als Rassist bezeichnet werde. Wenn ich für Buschkowski und die NSU-Täter das gleiche Wort verwende, mache ich meine Kritik an seinen Verallgemeinerungen und Zuspitzungen selber unglaubwürdig. Aber lassen wir dieses Buch. Ich habe schon gesagt, dass mir Bücher lieber sind als Parteien, und das gilt auch hier, bei aller Kritik.

Um zum Schluss zu kommen:

Deutschland ist schon sehr viel weiter als es weiß. Wird jetzt alles gut, wird jetzt alles nett?

Nein, gemütlich ist es nicht in Einwanderungsländern, sie sind voller Konflikte und Ressentimens – auf allen Seiten! Selbstverständlich auch auf Seiten der Einwanderer. Schauen Sie nach USA, England, Kanada, Israel. Es gäbe keine Standup-Comedy ohne diese Tatsache.

Gegen Vergiftung muss man allerdings eintreten, aber dagegen hilft nicht das Schönreden. Man darf nicht die Arbeitsteilung akzeptieren, dass die einen sich für Religionsfreiheit, Säkularismus, Frauenrechte, Werte, Bildung einsetzen und die anderen erklären, alles laufe schon irgendwie und man müsse nur abwarten und dem neuen bunten Deutschland beim Wachsen zusehen. Ängste und Vorbehalte, Konflikte und Ressentiments darf man nicht wegdrücken, weil sie „der falschen Seite nutzen“.

Nur wer weniger Angst vor den eigenen Ängsten hat, wird sich weiter entspannen können. Nur wer nicht fürchtet, dass seine Ängste weggewischt werden, wird sie eines Tages relativieren können.

 

Ein Preis für Pussy Riot?

(Ich finde: Ja. Und werde das gleich im Radio verteidigen. Nach dem schändlichen Gerichtsurteil von gestern mehr denn je.)

Do 11.10.2012 12:07 – 14:30 Uhr

KULTURRADIO AM MITTAG

Verdient die russische Punk-Band Pussy Riot einen Preis? (12.10 h Hörerstreit)

Hans Ackermann

12:10 Hörerstreit

Verdient die russische Punk-Band Pussy Riot einen Preis?

Im Studio: Jörg Lau, Redakteur bei der Zeit

Für zwei der drei Musikerinnen der russischen Punkband Pussy Riot bleibt es dabei: Sie müssen für zwei Jahre in ein Straflager. Das hat gestern ein Berufungsgericht in Moskau bestätigt. Sie wurden wegen „Rowdytums aus religiösem Hass» verurteilt, nachdem sie im Februar in der Christi-Erlöser-Kathedrale gegen Präsident Wladimir Putin demonstriert hatten – mit einem Punkgebet. Für ihre Zivilcourage ist die Band Pussy Riot nun für zwei Preise nominiert: für den Sacharow-Preis für Meinungsfreiheit des Europaparlaments und den Luther-Preis „Das unerschrockene Wort“. Der Theologe Friedrich Schorlemmer findet diesen Vorschlag empörend.
Eine Lutherstadt dürfe keine „Gotteslästerung“ ehren. Mit seiner Kritik steht er nicht allein. Vor allem Kirchenvertreter wehren sich gegen diese Nominierung. Alle zwei Jahre wird mit dem Lutherpreis Persönlichkeiten geehrt, die im Sinne des Reformators Luhter Zivilcourage gezeigt haben.

Verdient die russische Punkband Pussy Riot einen Preis? Wenn ja, auch einen kirchlichen Preis wie den des „unerschrockenen Wortes“?
Diskutieren Sie mit – in unserem heutigen Hörerstreit.  Tel.-Nr.: 030/30 20 00 40  !!!!

 

Putins Russland ist kein Partner

Mein Kommentar aus der ZEIT von morgen, 11.10.2012:

In etwas mehr als einem Monat droht der deutschen Diplomatie ein peinlicher Moment. In Moskau tagt der »Petersburger Dialog«, das deutsch-russische Forum, auf dem die ›Modernisierungspartnerschaft‹ beider Länder alljährlich bekräftigt wird. Thema diesmal: »Die Informationsgesellschaft vor den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts«.
Peinlich wird die Sache deshalb: Russland hat im Sommer ein Gesetz zur Internetzensur eingeführt. Mißliebige Webseiten können seither von Putins Regierung ganz einfach abgeschaltet werden. Mit dieser Regierung einen Dialog über die »Informationsgesellschaft« zu führen, wirkt ziemlich naiv. Also absagen? Geht auch nicht mehr.
Einige Abgeordnete der Union haben die Zwickmühle erkannt und einen Antrag formuliert, der die Rückschritte Russlands bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit scharf kritisiert. Noch vor dem Treffen in Moskau soll er in den Bundestag eingebracht werden: Die Regierung wird darin aufgefordert, ihre Sorgen »klar zum Ausdruck zu bringen«.
Wie nötig eine solche Mahnung ist, zeigen die jetzt bekannt gewordenen Änderungsvorschläge des Auswärtigen Amts. Der Antrag soll gesoftet, offene Worte über den antidemokratischen Irrweg von Putins Regierung herausredigiert werden. Dafür finden sich neue Passagen über die Größe Rußlands und seine Bedeutung als Energielieferant.
Die Abgeordneten dürfen sich das nicht bieten lassen. Sie sollten sich dem Versuch widersetzen, Russland weiter durch den Weichzeichner zu betrachten.
Es geht hier um mehr als einen Antrag. Nötig ist die Neubestimmung der deutschen Russlandpolitk. Trockener, kühler, realistischer – ebenso fern von Kaltem Kriegertum wie von der Illusion der Partnerschaft.
Deutsche Kanzler haben sich viel in Goodwill geübt: Kohls Strickjackenbesuche und Saunagänge bei Gorbi; Gerhard Schröder wurde gar Putins Apologet bis zur Anbiederei. Letzteres kann man Angela Merkel nicht vorhalten. Doch ihre Rußlandpolitik unterscheidet sich, einem hartnäckigen Vorurteil zum Trotz, nur habituell von der Schröders. Sie findet Putins Machismo peinlicher, als sie öffentlich zugeben kann. Doch die wirtschaftliche Verflechtung hat unter Merkel noch zugenommen, und auch ihr Engagement für Regimekritiker kommt über erwartbare symbolische Gesten selten hinaus. Am Ende übertrumpft das Interesse an guter Atmosphäre für die deutsche Industrie und politischer Kontinuität stets auch Merkels Widerwillen.
Trotz aller Bemühungen entfernt sich Russland von uns. Putin hat einen nüchtern-zynischen Blick auf die Deutschen: Ihr seid geschwächt durch die Eurokrise, und die Energiewende (Danke dafür, übrigens!) fesselt euch noch enger an unsere Pipelines. Wenn ihr wirklich wollt, dass Assad stürzt, warum tut ihr nichts dafür? Ihr echauffiert euch über Pussy Riot im Gefängnis, setzt aber mit uns den »Rechtsstaatsdialog« fort? Wie verlogen ist das denn? Und euch soll ich ernst nehmen?
Mit einem anderen großen Russen gefragt: Was tun? Vielleicht wäre es kein schlechter Anfang, die Lage so zu beschreiben wie sie ist. Niemand in Berlin hat einen Plan, wie man mit dem Russland unter Putin 2.0 umgehen soll. Dieses Land hält seine schützende Hand über den syrischen Diktator Assad, der sein eigenes Volk massakriert, wie unser Außenminister nicht aufhört zu betonen. Nichtregierungsorganisationen – auch deutsche Stiftungen – werden seit kurzem gezwungen, sich in Russland selbst als »Ausländische Agenten« zu bezeichnen; dadaistische Politkunstaktionen werden mit jahrelanger Haft für  junge Mütter bestraft; das Versammlungsrecht wird immer mehr eingeschränkt, um eine rege Zivilgeselslchaft zu drangsalieren.
Dieses Russland modernisiert sich nicht, und wie ein Partner verhält es sich auch nicht. Die »Modernisierungspartnerschaft«, vor vier Jahren aus der Taufe gehoben, ist den plötzlichen Kindstod gestorben. Die Hinterbliebenen sollten sich den Verlust eingestehen.
Es liegt in der Natur der Sache, dass Deutschlands Russlanddiplomatie auf Ausgleich und Gespräch setzt. Auch das ist, kühl betrachtet, im deutschen Interesse. Nicht im deutschen Interesse ist es, wenn die Regierung unliebsame Anträge redigiert. Das Parlament muss ohne große Rücksichten seinem Unbehagen an den russischen Entwicklungen Ausdruck geben können. Die Regierung könnte sich dies in ihren Verhandlungen mit Russland zunutze machen: Seht mal, bei uns wächst der Unmut über eure Politik!
Sie müsste dazu nur etwas mutiger sein. Nicht ausgeschlossen, dass sie dann auch in Moskau wieder ernster genommen würde  –und ein echter Dialog beginnen könnte.

 

Der Feind meines Feindes ist nicht immer mein Freund

Mein Kommentar aus der ZEIT von heute über die zweifelhafte Aufwertung der iranischen „Volksmudschahedin“ im Kampf gegen das Teheraner Regime: 

Was die amerikanische Regierung dieser Tage verkündet hat, kommt einem Geständnis sehr nahe, dass der Schattenkrieg mit dem Iran in vollem Gange ist: Die oppositionellen iranischen Volksmudschahedin (MKO) werden von der Liste »ausländischer Terrorgruppen« entfernt. Sie sind nun eine legale Oppositionsgruppe, die in den USA offen Lobbyarbeit betreiben und Spenden sammeln darf.

Das ist ein gefährlicher Schritt im Kampf um das iranische Atomprogramm. Offiziell hält Amerika zwar weiter an der Diplomatie fest. Doch wer erklärte Todfeinde des Teheraner Regimes legalisiert, zeigt, dass er in Wahrheit nicht mehr an eine diplomatische Lösung glaubt.

Es gibt durchaus Fälle, in denen vormalige Terroristen zu Recht als legitime Freiheitskämpfer betrachtet werden: wenn die betreffende Gruppe sich gewandelt und der Gewalt abgeschworen hat – so wie etwa Nelson Mandelas ANC und Jassir Arafats PLO.

Doch dies hier ist ein anderer Fall. Seit Jahren gibt es Berichte, dass die Volksmudschahedin den Westen mit Informationen über das iranische Atomprogramm versorgen. Im Gegenzug, so hat der New Yorker in diesem Jahr enthüllt, sind MKO-Soldaten bis mindestens 2007 von amerikanischen Spezialeinheiten ausgebildet worden. Sie sollen mit dem israelischen Geheimdienst Mossad auch an der gezielten Tötung von Atomforschern im Iran beteiligt gewesen sein. Die Mudschahedin sind eine Waffe im verdeckten Kampf gegen das iranische Atomprogramm. Mit einer Prise Zynismus könnte man sagen: Da ist es nur ehrlich, sie von der Liste zu nehmen.

Allerdings hat das Manöver nichts mit Ehrlichkeit zu tun. Die Obama-Regierung steht derzeit innenpolitisch unter Druck, sich gegenüber dem Iran tough zu zeigen. Dass die beim Regime verhasste Gruppe ausgerechnet jetzt legalisiert wird, ist auch Wahlkampftaktik: stark gegenüber Teheran wirken, ohne viel zu riskieren, so das Kalkül.

Aber die Legalisierung einer isolierten Exilgruppe wie der Volksmudschahedin birgt Gefahren für die wahren Kräfte des Wandels im Iran. Die Anführerin der Gruppe, Marjam Radschawi, stellt sich im Pariser Exil nun als legitime Vertreterin der iranischen Opposition mit offiziellem Brief und Siegel des amerikanischen Außenministeriums dar. Sie ruft die Bevölkerung auf, den Regimewechsel herbeizuführen. Den Ajatollahs wird so die Begründung frei Haus geliefert, die legitime Opposition daheim zu diskreditieren: Sie mache gemeinsame Sache mit Terroristen und diese steckten wiederum mit den USA und Israel unter einer Decke.

Das amerikanische Außenministerium betont, man befinde sich keinesfalls in einer »gemeinsamen Front gegen die Islamische Republik Iran«. Wirklich nicht? Warum dann dieser Schritt in der jetzigen angespannten Lage?

Nicht nur das Regime, sondern auch weite Kreise der iranischen Bevölkerung – bis weit hinein in die Grüne Bewegung, die sich nach der letzten Präsidentschaftswahl formierte – lehnt die MKO ab. Mit gutem Grund. Die Gruppe hat seinerzeit zunächst mit Ajatollah Chomeini den Schah gestürzt, sich dann aber mit dem neuen Machthaber überworfen. Sie fing an, Regimepolitiker zu töten, wurde erst in den Untergrund und schließlich ins Exil getrieben. Ausgerechnet beim Erzfeind des Irans, Saddam Hussein, fand man Unterschlupf. Die MKO half Saddam, irakische Kurden und Schiiten zu massakrieren. Sowohl im Iran als auch im Irak hat das niemand vergessen. Der dankbare Saddam ließ sie ein Militärlager auf irakischem Boden betreiben, in dem Tausende Soldaten für den Umsturz in Teheran trainierten. Die Ideologie der Gruppe, anfangs eine Mischung aus Islamismus und Marxismus, wurde immer mehr auf den Personenkult um die exilierten Führer zugeschnitten, das Ehepaar Massud und Marjam Radschawi. Die bis heute totalitären Strukturen in dieser militanten Sekte machen ihre späten Bekenntnisse zu einem »säkularen und demokratischen Iran« völlig unglaubwürdig.

Die Volksmudschahedin anzuerkennen folgt einer diskreditierten Logik, die immer noch fälschlicherweise als »Realpolitik« gilt: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Die Malaise der amerikanischen Iranpolitik hat so angefangen, mit der Unterstützung des Westens für den Schah – gegen die nationale Freiheitsbewegung. Der Schah wurde von den Islamisten gestürzt, gegen die nun der Westen wiederum die Volksmudschahedin stützt? Irre.

Stets und überall ist die Politik damit gescheitert, radikale Gruppen gegen unliebsame Regime auszuspielen – von den Contras in Nicaragua bis zu den Taliban in Afghanistan. Nach einer treffenden Definition erkennt man Wahnsinn daran, immer wieder das Gleiche zu tun und doch andere Ergebnisse zu erwarten. Es ist Zeit, endlich damit aufzuhören.

 

Wie Blasphemiegesetze zur Unterdrückung religiöser Minderheiten führen

Ich habe es ja vorhergesagt: Blasphemiegesetze sind des Teufels. In Ägypten sind jetzt zwei minderjährige Kinder koptischer Herkunft wegen Gottelsästerung verhaftet worden, aufgrund der zweifelhaften Aussagen eines radikalen Imams.

Hussein Ibish hat zu der Problematik einen sehr klarsichtigen Essay geschrieben. Der Kampf gegen eine globale Blasphemiegesetzgebung, wie sie jetzt von den Vertretern vieler islamischer Staaten gepusht wird, ist eine entscheidende Front für alle freiheitsliebenden Menschen. Und, um das gleich hinzuzufügen: Eine notwendige Ergänzung – kein Widerspruch! – zum Kampf gegen grassierende Islamhetze:

After all the grandstanding by various Muslim leaders at the recent U.N. General Assembly meeting, and by the Organization of Islamic Conference, on the need for global anti-blasphemy laws, the Egyptian legal system has been thoughtful enough to provide us with a timely demonstration of what such restrictions look like in practice. Two Coptic Christian children Nabil Nagy Rizk, 10, and Mina Nady Farag, 9, were arrested yesterday on charges of „insulting religion“ in the governorate of Beni Suef. The two children are being held in a juvenile detention center awaiting further investigation and possible criminal prosecution.

The children stand accused by the Imam of a local mosque of destroying papers, including some containing Quranic verses. The incident is disturbingly reminiscent of an ongoing scandal in Pakistan in which a Christian girl is being persecuted for allegedly destroying copies or pages of the Quran.

This is what anti-blasphemy laws inevitably lead to: the arrest and persecution of religious minorities, including children, in order to „protect sensibilities“ of religious majorities. What it shows is that anti-blasphemy laws have nothing to do with „respect“ or „sensitivity“ to religious sentiments but are all about authority, control and social domination.

Because these laws appeal to extra-legal and extra-constitutional sentiments, values and principles that exist above and beyond the law itself, they lend themselves perfectly to abusive and discriminatory application. In the case of prosecutions regarding the dissemination of the inflammatory, offensive anti-Islam online video clip „The Innocence of Muslims,“ a Coptic Christian named Albert Saber has been arrested and remains in detention for allegedly posting the clip online. But no measures have been taken against the Salafist Al-Nas television station that broadcast significant portions of the video to its large audience in the earliest effort to whip up a public frenzy that led directly to the violent incidents that rocked the Middle East a few weeks ago.

Al-Nas defended its actions as responsibly alerting the public to a „threat“ to Islam, but in fact it was the principal vehicle for disseminating the content of the clip in the Arab world. Had they ignored it, the ensuing chaos might well never have come to pass. The channel cynically served as the main public relations vehicle for the video, because the Saudi-funded extremist station and its radical backers understood that their political allies would be the direct beneficiaries of public outrage, which they were delighted to stoke to a fever pitch.

Yet they have not been prosecuted under Egypt’s anti-blasphemy laws, because they are extremist Muslims purporting to act „in defense of Islam.“ So anti-blasphemy laws are again revealed to be entirely about social and political context, authority and control, and nothing to do with content.

Amazingly, there has been virtually no pushback or reaction to remarks by the Emir of Qatar Sheikh Hamad bin Khalifa al-Thani in his recent U.N. speech, which sought to place the blame for the violence entirely at the feet of the authors of the video and implicitly exonerated the rioters and extremist organizations behind them for the deaths for which they were directly responsible. He alleged that „freedom should not cross reasonable limits and become a tool to hurt and insult the dignity of others and of religions and faiths and sacred beliefs as we have seen lately, which regrettably led to the killing of innocent people who have not committed any crime.“

This is a perfect window into the through-the-looking-glass world of blasphemy-ban advocates. In this reality, those who engage in offensive speech (and there’s no question that the video is patently Islamophobic and hateful) bear the full responsibility if others cynically exploit their intentional, calculated provocations for their own political and social purposes. If people are killed, that’s the fault of the provocateurs, not the killers. These statements implicitly absolve extremist and violent reactions to provocative speech and suggest that the proper response is not to denounce and yet still protect offensive expression, but to suppress it in order to prevent a violent reaction.

The Emir, in effect, was making common cause with the violent extremists, using their deplorable and criminal behavior as a rationalization for the suppression of offensive speech. It’s a thinly-disguised exercise in bullying, and an updated version of Richard Nixon and Henry Kissinger’s old „madman“ diplomatic strategy: if you don’t make an agreement with me on my terms, you’ll bear the full responsibility for what those other crazy people do.

Of course, it’s an even worse form of bullying to arrest children on trumped up charges of „blasphemy.“ Yet this is happening, time and again, in several Muslim-majority states. The latest examples from Egypt are only the most recent.

That’s what the push for a global anti-blasphemy ban—which will not and must not succeed—is ultimately designed to do: rationalize such oppressive restrictions in those Muslim-majority states where they actually apply. And, in practice, that means religious minorities, including children, will inevitably be subjected to grotesque abuses. If this isn’t a wake-up call for everybody who thinks they are committed to freedom and democracy, I don’t know what will be.