Tausende von Zuschauern, rauchende Opferfeuer, Mord und Totschlag beim Ringkampf und nirgends Toiletten – bei den Spielen war schon vor 2500 Jahren der Teufel los
Von Christian Staas
Alle Illustrationen: Jörn Kaspuhl für DIE ZEIT
Welch ein Gedränge! 40.000 Menschen strömen in den olympischen Hain, das wichtigste Heiligtum der antiken Welt. Könige reisen an, mit einem Heer von Sklaven und prächtigen Zelten; Philosophen kommen, Dichter und Schaulustige. Schon von Weitem sehen sie den Zeustempel in der Augustsonne leuchten. Im Innern thront die zwölf Meter hohe Statue des Gottes, aus Elfenbein und Gold. Zeus ist der höchste griechische Gott. Ihm zu Ehren finden alle vier Jahre die Olympischen Spiele statt; in diesem Jahr, 416 vor Christus, zum 91. Mal.
Die Menge johlt, als die Athleten am ersten Tag ins Stadion marschieren: drahtige Sprinter, muskulöse Fünfkämpfer, schwergewichtige Ringer und Boxer. Ihre Haut haben sie mit Öl eingerieben. In den kommenden Tagen werden sie alles geben, um zum Sieger gekürt zu werden, mit einem Blätterkranz von einem heiligen Olivenbaum.
So fair und friedliebend, wie es sich heute mancher ausmalt, geht es dabei allerdings nicht zu. Schon der Ursprung der Wettkämpfe ist kriegerisch. Der Legende nach bezwang einst Pelops, ein reicher Prinz, den Griechenkönig Oinomaos im Wagenrennen und herrschte fortan über die später nach ihm benannte griechische Halbinsel – die Peloponnes. An seinem Grab in Olympia wurden seit spätestens 776 vor Christus Sportfeste ausgerichtet.
416 vor Christus, zu ihrer Glanzzeit, sind diese Olympischen Spiele längst ein Riesenspektakel. Mancher Besucher nimmt wochenlange Reisen auf sich, um dabei zu sein – mit dem Schiff übers Mittelmeer, mit Eselskarren durch umkämpftes Gebiet. Denn in Griechenland streiten damals mehrere Städte und Reiche um die Vormacht. Ständig herrscht Krieg. Alle vier Jahre aber ruhen die Waffen: während des kurzen »Olympischen Friedens«. Manche halten das antike Kräftemessen heute deshalb für ein Friedensfest. Ein Irrtum: Zeus, dem die Spiele geweiht sind, wird als Schlachtenlenker verehrt. Und der Sport? Pures Kampftraining! Der antike Fünfkampf besteht aus Rennen, Diskuswurf, Weitsprung, Speerwerfen und Ringen; beim Waffenlauf sprinten die Männer mit Helm und Schild.
Zurück ins Jahr 416: Im Stadion haben die Athleten der Jugendwettkämpfe Aufstellung genommen für den Stadionlauf über knapp 200 Meter – die älteste olympische Disziplin. Der Schiedsrichter gibt das Startzeichen. Dann wetzen die 16- bis 17-Jährigen über den Sandplatz. Sie sind, wie alle Athleten, splitterfasernackt. Einzig beim Wagenrennen am dritten Tag herrscht Kleiderzwang. Je vier Pferde sind vor die Wagen gespannt. Halsbrecherisch donnern sie über die Rennbahn. Nicht selten krachen die Gefährte ineinander, stürzen die Wagenlenker in den Staub.
Am vierten Tag erreichen die Spiele ihren religiösen Höhepunkt: das Zeus-Opfer. Vor dem Tempel schlachten die Priester hundert Stiere. Das Blut fließt in Strömen, Stechfliegen summen um die Innereien. Doch nicht alles Fleisch ist für Zeus bestimmt. Nur die Schenkel werden verbrannt. Den Rest spießt die Feiergesellschaft auf Grillstangen. Das heilige Opfer gleicht einem Gelage, ja die gesamten Spiele sind ein großes Sehen und Gesehenwerden. Auch die Händler machen ein gutes Geschäft, verkaufen Suppe, Datteln und Souvenirs. Nur an eines ist nicht gedacht: Toiletten. Die Besucher erleichtern sich in den umliegenden Wäldern.
Am letzten Wettkampftag kocht die Stimmung beinah über, wenn die Schwerathleten im Stadion ringen und boxen: im Pankration oder Allkampf. Das Publikum rast, wenn die muskelbepackten Kämpfer einander würgen, die Nasen brechen und die Zähne ausschlagen – bis einer nicht mehr kann. Oder tot zusammenbricht, wie 564 vor Christus der berühmte Allkämpfer Arrhachion aus Phigaleia, den die Schiedsrichter trotzdem zum Sieger ernannten. Bei der Ehrung am letzten Tag schmückte ein Ölzweig seinen Leichnam. Über den Spruch »Dabei sein ist alles« hätten die damaligen Sportler gelacht. Zweite und dritte Plätze? Das gibt es nicht. Wer nicht Erster ist, hat verloren und erntet Spott und Hohn.
Auf die Gewinner aber wartet zu Hause ein Jubelempfang mit einem Konfettiregen aus Blüten. Den olympischen Helden steht ein süßes Leben bevor. Sie müssen keine Steuern zahlen, können sich im Stadthaus satt essen bis an ihr Lebensende. Außerdem dürfen sie etwas, was sonst nur Göttern zusteht: ihr Ebenbild in Stein meißeln lassen. Kein Wunder, dass einige den Sport zum Beruf machen und die Städte ihre Sportskanonen zu fördern beginnen. Einerseits können sich dadurch auch ärmere Sportler die Teilnahme leisten. Andererseits kommt mit dem großen Geld aber auch der Betrug. Immer wieder werden Schiedsrichter bestochen – oder die Gegner fürs Verlieren bezahlt! Die Skandale nehmen zu, und 393 nach Christus verbietet der christliche römische Kaiser Theodosius I. die »heidnischen Spiele«. Die herrlichen Bauten verfallen. Olympia wird vergessen.
Im 19. Jahrhundert erforschen Archäologen die antike Kultstätte. Sie finden Reste des Zeustempels, entdecken wunderbare Statuen aus Marmor. So schön wie diese Figuren stellten sie sich auch die Spiele vor. 1896 werden in Athen die ersten Olympischen Wettkämpfe der Neuzeit eröffnet. Seither nehmen die Klagen kein Ende: Wie schade, dass es heute nicht mehr so ehrenvoll zugeht wie bei den Griechen! Dabei ähnelt der moderne Olympiarummel dem antiken Vorbild mehr, als den Kritikern recht ist… Und so wird es auch dieses Jahr in Peking nicht nur um Sport, sondern auch um Macht, Einfluss und viel Geld gehen. Fast so wie vor 2500 Jahren.
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