Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Der Sandelf (Folge Nr. 2)

 

Der Sandelf
Illustration: Sabine Friedrichson
Schreckliche Schönheit!
Cyril, Anthea, Robert, Jane und das Baby »Lamm« verbringen die Ferien mit ihrem Kindermädchen Martha auf dem Land. Beim Spielen finden sie einen Sandelf – und dieses merkwürdige Wesen erfüllt Wünsche! Deshalb starren die Kinder einander gerade verwirrt an: Sie sind strahlend schön geworden…

Der Sandelf schaufelte plötzlich wie wild mit Händen und Füßen und verschwand im Sand. Die Geschwister schauten einander an, und jedes Kind fand sich plötzlich allein zwischen drei wildfremden Kindern von strahlender Schönheit. Einen Augenblick lang verharrten sie in absolutem Schweigen. Jeder von ihnen meinte, dass sich seine Geschwister fortgeschlichen und diese fremden Kinder sich ebenso leise hergeschlichen haben mussten, während es selbst zuschaute, wie der Sandelf anschwoll. »Entschuldigung«, sagte Anthea überaus höflich zu Jane, die jetzt riesige blaue Augen und dichtes kastanienbraunes Haar hatte, »hast du vielleicht zwei Jungen und ein Mädchen hier irgendwo in der Gegend gesehen?« – »Das Gleiche wollte ich gerade dich fragen«, antwortete Jane.

Der Sandelf
Illustration: Sabine Wilharm

Da schrie Cyril: »Das bist ja du! Ich erkenne das Loch in deiner Schürze. Du bist doch Jane. Oder? Und du bist Anthea! Ich seh die Blutflecken in deinem Taschentuch! Du hast vergessen, dir ein frisches einzustecken, nachdem du dich in den Daumen geschnitten hattest. Donnerwetter! Der Wunsch ist doch in Erfüllung gegangen. Sagt mal, bin ich genauso schön wie ihr?«

»Wenn du Cyril bist, dann hast du mir vorher besser gefallen«, sagte Anthea entschieden. »Mit deinen goldenen Haaren bist du das Abbild eines zarten Chorknaben. Und wenn der andere Robert ist, dann sieht er jetzt wie ein italienischer Drehorgelspieler aus mit seinen rabenschwarzen Haaren.« »Und ihr beiden Mädchen seht wie Weihnachtsengel aus, ätsch! Wie blöde Weihnachtsengel!«, rief Robert wütend. »Und Janes Haar ist karottenrot!« In Wirklichkeit schimmerte es in jenem goldenen Kupferton, der von Malern so geliebt wird.

»Ach, es hat keinen Sinn, dass wir aufeinander rumhacken«, sagte Anthea. »Wir wollen das Lamm wecken und allesamt zum Mittagessen gehen. Auf jeden Fall werden uns die Köchin und Martha glühend bewundern, ihr sollt mal sehen!«

Der Kleine wachte gerade auf, als sie zu ihm kamen, und alle Kinder waren erleichtert, als sie feststellten, dass wenigstens das Lamm nicht bildhübsch geworden, sondern genauso wie vorher geblieben war. »Vermutlich ist er noch zu klein, als dass der Wunsch von selber auch für ihn mit gilt«, sagte Jane. »Das nächste Mal müssen wir das Lamm extra erwähnen.« Anthea lief zu ihm und streckte die Arme aus. »Komm zu Anthea, mein Kleiner«, lockte sie.

Der Kleine schaute sie missbilligend an, dann streckte er seinen rosigen, sandigen Daumen in den Mund. Anthea war seine Lieblingsschwester. »Ja, so komm doch«, wiederholte sie. »Geh weg!«, sagte das Lamm. »Komm doch zu deiner Pussy«, säuselte Jane. »Will zu Antha«, sagte das Lamm abwehrend, und seine Lippe begann zu zittern. »Los, komm, nun komm schon, alter Junge«, sagte Robert. »Komm huckepack auf Robys Rücken!« – »Nein, nein, böse, böse!«, heulte der Kleine hemmungslos. Und da wussten die Kinder, dass das Schlimmste eingetreten war: Ihr Kleiner erkannte sie nicht mehr.

Sie schauten einander verzweifelt an, und es war in dieser unglücklichen Situation grässlich, in die wunderschönen Augen von wildfremden Kindern blicken zu müssen statt in die vergnügten, freundlichen, alltäglichen, zwinkernden und vertrauten Augen der Geschwister.

»Dies ist wirklich schrecklich«, stellte Cyril fest, nachdem er versucht hatte, das Lamm aufzuheben, und nachdem ihn das Lamm wie eine Katze gekratzt und dabei wie ein Stier gebrüllt hatte. »Wir müssen uns tatsächlich mit dem Lamm anfreunden! Ich kann es nicht nach Hause tragen, wenn es wie am Spieß brüllt. Stellt euch vor: sich mit dem eigenen Bruder anfreunden zu müssen! Das ist wirklich idiotisch!« Aber genau das war es, was sie tun mussten. Es dauerte über eine Stunde, und die Aufgabe wurde nicht gerade erleichtert dadurch, dass der Kleine inzwischen hungrig wie ein Löwe geworden war und vor Durst fast umkam.

Schließlich gestattete er diesen Fremden, ihn abwechselnd zu tragen, aber weil er sich strikt weigerte, sich an seinen neuen Bekannten festzuhalten, war er doppelt so schwer, und alle gerieten ins Schnaufen.

»Gott sei Dank, wir sind zu Hause!«, seufzte Jane und taumelte durch die Gartenpforte, wo schon Martha, die Kinderfrau, mit der Hand vor den Augen stand und ängstlich Ausschau hielt. »Hier! Nimm doch bitte den Kleinen!« Martha riss ihr das Kind aus den Armen. »Jetzt ist wenigstens das Lamm in Sicherheit«, sagte sie. »Wo sind die anderen? Und wer seid denn ihr alle, um Himmels willen?« – »Wir sind natürlich wir!«, rief Robert.

»Und wer ist wir, wenn ich bitten darf?«, erkundigte sich Martha vorwurfsvoll. »Wir sind es wirklich, wir sind nur bildschön«, fiel Cyril ein. »Ich bin Cyril, und das sind die anderen. Wir kommen um vor Hunger. Lass uns rein und stell dich nicht so an.«

Martha stieß nur wütend die Luft aus und versuchte, Cyril die Tür vor der Nase zuzuschlagen. »Ich weiß, dass wir anders aussehen, aber ich bin wirklich Anthea, und wir sind alle schrecklich müde. Es ist ja auch schon weit über Mittag.« – »Dann geht nach Hause und esst zu Mittag, wo immer ihr wohnt. Und wenn unsere Kinder euch angestiftet haben, mich mit diesem Theater zum Narren zu halten, dann könnt ihr ihnen von mir einen schönen Gruß bestellen. Sie wissen schon, was ihnen blüht, wenn ich sie erwische!« Damit knallte sie die Tür zu.

Cyril läutete wie verrückt, aber niemand öffnete. Nach einer Weile streckte die Köchin den Kopf zum Schlafzimmerfenster heraus und schrie: »Wenn ihr euch nicht davonschert, und zwar ein bisschen plötzlich, dann hol ich die Polizei!« Damit knallte sie das Fenster zu.

»Es hat keinen Zweck«, sagte Anthea. »Lasst uns bloß von hier weglaufen, bevor sie uns ins Gefängnis stecken!« Die Jungen sagten, das sei Unsinn und man könne nicht ins Gefängnis kommen, nur weil man bildschön sei, aber sie folgten ihren Schwestern doch hinaus auf den Weg.

»Nach Sonnenuntergang werden wir wahrscheinlich wieder so aussehen wie vorher«, vermutete Jane. »Wer weiß«, murmelte Cyril bedrückt. »Vielleicht klappt das nicht mehr so wie früher – seit der Zeit der Saurier hat sich ja vieles geändert.« – »Oh!«, rief Anthea plötzlich. »Vielleicht werden wir bei Sonnenuntergang versteinert! So wie die Riesenfaultiere, damit von uns kein Rest für morgen bleibt!« Sie brach in Tränen aus, und Jane stimmte in ihr Schluchzen ein. Selbst die Jungen wurden blass.

Der Nachmittag war schrecklich. Es gab kein Haus in der Nähe, wo sich die Kinder ein Stück Brot oder zumindest ein Glas Wasser hätten erbitten können. Sie trauten sich nicht, in den nächsten Ort zu gehen, denn sie hatten Martha mit einem Korb dorthin aufbrechen sehen, und in dem Ort gab es einen Polizisten. Zugegeben, sie waren atemberaubend schön, aber das stillt nicht den Hunger und löscht nicht den Durst.

Sie machten noch dreimal den Versuch, Martha dazu zu bewegen, sie ins weiße Haus einzulassen und sich ihre Geschichte anzuhören. Schließlich ging Robert allein vor. Er hoffte, dass er in eines der Fenster auf der Rückseite des Hauses einsteigen und auf diese Weise den anderen die Haustür öffnen könnte. Aber die Fenster lagen alle zu hoch, und Martha goss ihm aus einem der Fenster einen Krug kaltes Wasser über den Kopf und schrie: »Hau ab, du kleiner, widerlicher Lackaffe!«

Am Ende setzten die Geschwister sich nebeneinander vor die Hecke und warteten auf den Sonnenuntergang. Dabei dachten sie unaufhörlich darüber nach, ob sie, wenn die Sonne unterging, versteinern oder nur in ihr altes Ich zurückverwandelt werden würden. Jedes von ihnen fühlte sich zwischen den fremden Kindern einsam und verlassen und vermied es, die anderen anzuschauen, denn obgleich ihre Stimmen dieselben geblieben waren, waren ihre Gesichter so strahlend schön, dass es fast wehtat, sie zu betrachten.

»Ich glaube nicht, dass wir wirklich zu Stein werden«, bemerkte Robert endlich und brach damit das lange, trübselige Schweigen. »Der Sandelf hat gesagt, dass er uns morgen wieder einen Wunsch erfüllen will, und das könnte er doch nicht tun, wenn wir aus Stein sind. Oder?« Die anderen antworteten: »Nein.« Aber sie fühlten sich trotzdem nicht getröstet.

Darauf folgte ein noch längeres und noch trübseligeres Schweigen. Es wurde von Cyril unterbrochen, der plötzlich sagte: »Ich will euch Mädchen ja nicht erschrecken, aber ich habe das Gefühl, dass es bei mir schon beginnt. Mein Fuß ist ganz tot. Ich werde zu Stein, ich spüre es ganz genau, bei euch wird’s auch gleich anfangen.« – »Reg dich nicht auf«, antwortete Robert freundlich. »Vielleicht bist du der Einzige, der versteinert wird. Wir anderen bleiben völlig normal, und dann verehren und pflegen wir dein Standbild und schmücken es mit Girlanden.«

Als sich aber herausstellte, dass nur Cyrils Fuß eingeschlafen war, weil er so lange darauf gesessen hatte, und als mit Stechen und Prickeln die Durchblutung wieder einsetzte, riss den anderen die Geduld. »Uns solche Angst für nichts und wieder nichts einzujagen!«, fauchte Anthea.

Das dritte und allertrübseligste Schweigen wurde von Jane beendet. Sie sagte: »Wenn wir das alles heil und gut hinter uns bringen, dann sollten wir das Psammed bitten, es immer so einzurichten, dass Martha und die Köchin nichts merken, ganz egal, was wir für Wünsche äußern.« Die anderen grunzten nur. Sie fühlten sich zu elend, um einen Entschluss zu fassen oder über die Zukunft nachzudenken.

Schließlich brachten Hunger und Angst und Ärger und Erschöpfung – vier höchst unangenehme Dinge – doch etwas Gutes, nämlich den Schlaf. Die Kinder lagen nebeneinander und schliefen, und ihre wunderschönen Augen waren geschlossen, während ihre wunderschönen Münder offen standen.

Anthea wachte zuerst wieder auf. Die Sonne war gesunken, und die Dämmerung breitete sich aus. Anthea kniff sich kräftig in den Arm, und als sie das Kneifen deutlich spüren konnte, schloss sie daraus, dass sie nicht versteinert war, und kniff die Geschwister. Sie fühlten sich ebenfalls weich an.

»Aufgewacht!«, rief Anthea und brach fast in Freudentränen aus. »Es ist alles wieder gut, wir sind nicht zu Stein geworden. Ach, Cyril, was siehst du hübsch hässlich aus mit deinen alten Sommersprossen und deinen braunen Strubbelhaaren und deinen kleinen Augen. Und ihr anderen auch!«, setzte sie hinzu, damit Jane und Robert sich nicht zurückgesetzt fühlten.

Als die Geschwister nach Hause kamen, mussten sie zu allererst ein Donnerwetter von Martha über sich ergehen lassen, die ihnen von den fremden Kindern erzählte. »Und wo seid ihr die ganze Zeit gewesen, ihr ungezogenen kleinen Rangen?« – »Draußen auf dem Weg.« – »Und warum seid ihr nicht schon längst nach Hause gekommen?« – »Wir konnten nicht – wegen…«, erklärte Anthea. »Weswegen?« – »Wegen dieser bildschönen Kinder. Sie haben uns bis zum Sonnenuntergang festgehalten. Wir konnten nicht nach Hause, ehe sie weg waren. Du kannst dir nicht vorstellen, wie grässlich wir sie fanden! Aber, bitte, gib uns jetzt schnell was zu essen – wir haben solchen Hunger.«

»Hunger! Das kann ich mir vorstellen«, sagte Martha ärgerlich, »wenn man sich den ganzen Tag draußen herumtreibt. Ich hoffe nur, dass ihr euch das eine Lehre sein lasst und nicht wieder mit fremden Kindern durchbrennt. Und merkt euch: Wenn ihr sie wiederseht, dann redet erst gar nicht mit ihnen. Kein einziges Wort. Kommt sofort zu mir und sagt mir Bescheid. Ich werd ihnen ihre Schönheit schon austreiben!« – »Wenn wir sie wirklich noch einmal wiedersehen, dann werden wir es dir sagen«, versprach Anthea.

Robert verschlang mit den Augen schon das kalte Rindfleisch, das die Köchin gerade auf einem Tablett hereinbrachte, und setzte mit bedeutungsvollem Nachdruck hinzu: »Aber wir werden uns hüten, ihnen noch einmal zu begegnen.«

Der Sandelf aus der Feder der britischen Autorin Edith Nesbit (1858–1924) erscheint im Herbst 2008 in der neuen ZEIT Kinder-Edition. Wir drucken Auszüge vorab

Zur Folge 1