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Der Sandelf (Folge 3)

 

Nie wieder Blödsinn!
Die vier Kinder Cyril, Anthea, Robert und Jane haben einen Sandelf gefunden, der Wünsche erfüllen kann. Das ist weniger großartig als erwartet: Ihr erster Wunsch, strahlende Schönheit, hat den Kindern nichts als Ärger eingebracht. In Zukunft wollen sie vorsichtiger sein…
Illustration: Sabine Friedrichson
Am nächsten Morgen erwachte Anthea aus einem Traum, der ihr sehr wirklich erschienen war. Sie ging im strömenden Regen ohne Schirm durch den Zoo. Den Tieren behagte der Regen gar nicht; sie fühlten sich höchst ungemütlich und knurrten und brummten missmutig. Als Anthea aufwachte, hielten das Knurren und der Regen an. Das Knurren entpuppte sich als der schwere, regelmäßige Atem ihrer Schwester Jane, die sich etwas erkältet hatte und noch fest schlief. Der Regen tropfte aus dem nassen Zipfel eines Badehandtuches auf Antheas Gesicht, und das Handtuch wurde von ihrem Bruder Robert gehalten, der das Wasser sanft aus dem Handtuch drückte, um sie aufzuwecken. »Ach, lass das doch!«, rief sie ziemlich ärgerlich.

Er gehorchte sofort, denn er war durchaus kein brutaler Bruder. Allerdings war er recht erfinderisch, wenn es darum ging, Fußangeln zu legen, Betten mit Überraschungen zu versehen, originelle Methoden zum Wecken von schlafenden Verwandten und andere kleine Tricks zu ersinnen, die das Familienleben so behaglich machen. »Ich habe einen komischen Traum gehabt«, begann Anthea.

Der Sandelf
Illustration: Sabine Wilharm

»Ich auch«, fiel Jane ein, die urplötzlich ebenfalls hellwach war. »Ich hab geträumt, wir hätten einen Sandelf in der Sandkuhle gefunden, und der hat gesagt, er sei ein Psammy, und wir könnten ihm jeden Tag einen neuen Wunsch sagen, und…«

»Aber genau das habe ich auch geträumt«, rief Robert. »Das wollte ich euch gerade erzählen – und den ersten Wunsch durften wir gleich auf der Stelle äußern. Und dann hab ich geträumt, dass ihr Mädchen euch wie Gänse benommen habt. Ihr habt gewünscht, wir sollten alle bildschön sein, und genau das sind wir geworden, und es war ganz grässlich.«

»Können denn verschiedene Menschen genau das Gleiche träumen?«, erkundigte sich Anthea, während sie sich im Bett aufsetzte. »Außer vom Zoo und vom Regen habe ich nämlich ebenfalls davon geträumt, und in meinem Traum hat uns nicht einmal der Kleine erkannt, und die Köchin und Martha haben uns aus dem Hause gejagt, weil unsere blendende Schönheit wie eine vollkommene Verkleidung gewirkt hat, und…«

Auf der anderen Seite des Ganges erklang die Stimme ihres ältesten Bruders. »Los, Robert, sonst kommst du wieder zu spät zum Frühstück – außer du wäschst dich ebenso wenig wie am Dienstag.« »Komm doch mal rüber«, antwortete Robert. »Übrigens habe ich mich am Dienstag doch gewaschen, und zwar nach dem Frühstück in Vaters Ankleidezimmer.« Cyril erschien halb angezogen in der Tür.

»Hör mal«, sagte Anthea, »wir haben alle so was Komisches geträumt. Und zwar, dass wir einen Sandelf gefunden haben.« Unter Cyrils verachtungsvollem Blick erstarb ihre Stimme. »Geträumt?«, sagte er. »Ihr kleinen Dummköpfe! Das haben wir wirklich erlebt. Deswegen bin ich ja so scharf darauf, dass wir früh aus dem Haus kommen. Gleich nach dem Frühstück gehen wir wieder hinaus, und dann äußern wir den nächsten Wunsch. Nur – ehe wir weggehen, sollten wir uns genau darüber im Klaren sein, was wir uns nun eigentlich wünschen wollen, und keiner darf sich ohne das Einverständnis der drei anderen etwas wünschen. So was wie unwiderstehliche Schönheit darf es nicht noch einmal geben. Nur über meine Leiche!«

Die anderen drei zogen sich leicht verwirrt an. Wenn ihr Traum von dem Psammed Wirklichkeit war, dann kam ihnen dieses wirkliche Kleideranziehen fast wie ein Traum vor. Jane glaubte gleich, dass Cyril recht hatte, aber Antheas Zweifel wurden erst durch Martha vertrieben, die sich noch einmal in aller Deutlichkeit über ihr schlechtes Benehmen von gestern beklagte. Danach war auch Anthea überzeugt. »Denn«, sagte sie, »Kindermädchen träumen meistens nur von solchen Sachen, die im Buch für Traumdeutung stehen, zum Beispiel von Schlangen und Muscheln und Hochzeitsglocken; die bedeuten eine Beerdigung, und Schlangen sind falsche Freundinnen, und Muscheln sind Babys.«

»Da wir gerade von Babys reden«, unterbrach sie Cyril, »wo ist das Lamm?« – »Martha nimmt es nach Rochester mit, wo sie ihre Cousinen besucht. Mutter hat es ihr erlaubt. Sie zieht dem Kleinen gerade seine feinsten Sachen an«, antwortete Jane. »Gib mir mal die Butter, bitte.« – »Sie scheint ihn gern mitzunehmen«, bemerkte Robert im Tone tiefster Verwunderung.

»Mädchen zeigen Babys immer gern in der Verwandtschaft herum«, erklärte Cyril. »Das hab ich schon früher festgestellt. Besonders wenn die Babys in Sonntagskleidchen stecken.« – »Vielleicht erzählt sie, das Lamm sei in Wirklichkeit ein Prinz oder ein Herzog«, sagte Jane träumerisch, während sie sich Marmelade nahm. »Martha findet das alles sicher himmlisch.« – »Sie kann es nicht himmlisch finden, unser Prinzenbaby nach Rochester mitzuschleppen«, unterbrach sie Robert.

»Stell dir mal vor: bis nach Rochester mit dem Lamm auf dem Buckel! Grauenhafte Idee«, sagte Cyril aus voller Seele. »Der Fuhrmann nimmt sie doch mit«, sagte Jane. »Kommt, wir bringen sie hin, das ist erstens nett und höflich, und zweitens wissen wir dann ganz genau, dass wir sie für heute los sind.«

Sie brachen alle auf. Martha trug ihr Sonntagskleid, das in zweierlei Purpurrot erstrahlte und über der Brust so eng war, dass sie kaum aufrecht stehen konnte. Dazu hatte sie ihren blauen Hut mit den rosa Kornblumen und dem weißen Band aufgesetzt. Ihr gelber Spitzenkragen war mit einer grünen Schleife zugebunden, und das Lamm trug sein bestes cremefarbenes Seidenmäntelchen und einen kleinen Hut. Es war ein elegantes Paar, das beim Kreuzweg in den Wagen des Fuhrmanns kletterte. Als das weiße Verdeck und die roten Räder langsam in einer Wolke von Kalkstaub verschwanden, rief Cyril: »Und jetzt ab zum Psammy!«

Sie rannten los und einigten sich während des Laufens über den Wunsch, den sie vorbringen wollten. Obwohl sie es eilig hatten, kletterten sie nicht über die Böschung der Sandkuhle, sondern nahmen den unteren, sicheren Weg. Sie hatten um den Platz, an dem der Sandelf verschwunden war, einen Ring aus Steinen gelegt; deshalb fanden sie ihn gleich wieder.

Die Sonne brannte, der Himmel war tiefblau und ohne eine einzige Wolke. Der Sand war bereits so heiß, dass man ihn kaum berühren mochte. »Stell dir vor, es wäre doch nur ein Traum gewesen«, sagte Robert, während die Brüder ihre Schaufeln aus dem Sandhaufen hervorzogen, in dem sie sie verscharrt hatten. Dann begannen sie zu graben. »Stell dir vor, du wärst ein Mensch mit Grips«, antwortete Cyril hitzig. »Das eine ist genauso wahrscheinlich wie das andere.« – »Und stell du dir vor, dass du deine Frechheit verlierst«, fauchte Robert.

»Und stellt ihr beide euch vor, dass wir Mädchen euch ablösen«, schlug Jane lachend vor. »Für euch scheint es schon zu heiß zu sein.« – »Ich stelle mir lieber vor, dass ihr eure dämlichen Nasen nicht überall hineinsteckt«, sagte Robert, der nun wirklich vor Wut zu kochen begann. »Das tun wir ja gar nicht«, antwortete Anthea. »Sei doch nicht so eklig, Robert, wir sagen jetzt auch kein einziges Wort mehr, und du sollst für uns alle mit dem Psammy reden und ihm sagen, auf welchen Wunsch wir uns geeinigt haben. Du kannst das viel besser als wir!«

»Stellt euch vor, wir redeten alle nur halb so viel Unsinn«, murmelte Robert schon etwas besänftigt. »Passt auf! Grabt jetzt mit den Händen!« Das taten sie, und nach kurzer Zeit hatten sie den spinnenförmigen braunen pelzigen Körper, die langen Arme und Beine, die Fledermausohren und die Schneckenaugen des Psammeds freigelegt. Jeder stieß einen tiefen, erleichterten Seufzer aus, denn jetzt konnte es wirklich kein Traum mehr gewesen sein.

Das Psammed richtete sich auf und schüttelte den Sand aus dem Fell. »Wie geht es deiner linken Schnurrbartspitze heute früh?«, erkundigte sich Anthea höflich. »Darüber wollen wir lieber nicht reden«, antwortete es. »Sie hat mir eine ziemlich schlaflose Nacht bereitet. Aber danke für die freundliche Nachfrage.«– »Fühlst du dich heute in der richtigen Verfassung, um Wünsche zu erfüllen?«, fragte Robert. »Wir haben nämlich neben dem Tageswunsch noch einen Extrawunsch. Aber der Extrawunsch ist ziemlich klein«, setzte er beruhigend hinzu.

»Hmpf!«, machte der Sandelf. »Hmpf! Wisst ihr, bis ich euch direkt über meinem Kopf hab streiten hören – und obendrein noch so laut –, da hab ich wirklich gedacht, ich hätte euch alle nur geträumt. Ich träume nämlich manchmal die sonderbarsten Sachen.« – »Wirklich?«, fragte Jane. Und dann setzte sie höflich hinzu: »Ich wünschte, du könntest uns von den Träumen erzählen. Sie müssen schrecklich aufregend sein.«

»Ist das der Wunsch des Tages?«, fragte der Sandelf und gähnte. Cyril murmelte irgendetwas von »typisch Mädchen«, und die anderen schwiegen verlegen. Wenn sie jetzt Ja sagten, dann konnten sie den anderen Wunsch, auf den sie sich geeinigt hatten, für heute abschreiben. Wenn sie aber Nein sagten, so wäre das ziemlich unhöflich. Deshalb seufzten sie erleichtert, als der Sandelf jetzt fortfuhr: »Wenn ich euch von meinen Träumen erzähle, dann hab ich nicht mehr genug Kraft, um euch einen zweiten Wunsch zu erfüllen; nicht einmal, wenn ihr euch solche Kleinigkeiten wie gutes Benehmen, Selbstdisziplin, Vernunft und Haltung wünscht.«

»Oh, dieser Dinge wegen wollen wir dich gar nicht bemühen, damit kommen wir schon selbst zu Rande«, beeilte sich Cyril zu sagen, während sich die anderen schuldbewusste Blicke zuwarfen und insgeheim wünschten, dass der Elf nicht immerfort über gute Manieren und Haltung reden, sondern ihnen einmal kräftig seine Meinung sagen und dann wieder Ruhe geben würde.

»Na gut«, sagte das Psammed und ließ ein langes Schneckenauge so plötzlich herausfahren, dass es fast gegen die Pupille von Robert stieß, »dann nennt mal den kleinen Wunsch zuerst.« – »Wir wollen, dass Martha und die Köchin nichts von dem merken, was du uns verleihst.« – »Was du uns freundlicherweise verleihst«, flüsterte Anthea. »Was du uns freundlicherweise verleihst, wollte ich sagen«, verbesserte sich Robert.

Der Elf blies sich ein wenig auf, ließ dann den Atem wieder aus sich herauszischen und sagte: »Das ist erledigt. Es war auch ganz leicht, denn die meisten Leute merken sowieso nicht viel. Und wie steht es mit dem nächsten Wunsch?« – »Wir möchten«, antwortete Robert langsam und bedächtig, »unvorstellbar reich werden.« – »Habsüchtig, nicht wahr?«, fragte Jane unsicher.

»Genau das«, entgegnete der Elf unerwartet. »Doch es wird euch nicht viel nützen, das ist der einzige Trost«, murmelte er in seinen Bart. »Aber hör mal, unvorstellbar reich, das geht nicht, verstehst du? Wie viel Geld genau soll es sein? Und wollt ihr es in Gold oder in Noten haben?« – »In Gold, bitte schön – und am liebsten ein paar Millionen.« – »Würde diese Sandkuhle voll genügen?«, fragte der Elf leichthin und so, als ob das gar nichts wäre. »O ja!«

»Dann macht euch davon, ehe ich anfange, sonst werdet ihr bei lebendigem Leibe begraben.« Er reckte seine Pfoten hoch empor und wedelte derart furchteinflößend mit ihnen herum, dass die Kinder, so rasch sie konnten, den Karrenweg entlangrannten, der aus der Kuhle herausführte. Nur Anthea besaß genug Geistesgegenwart, um im Davonrennen noch atemlos zurückzurufen: »Auf Wiedersehen, hoffentlich geht es deiner Schnurrbartspitze morgen besser!«

Auf der Straße drehten sie sich um und schauten zurück. Sie mussten ihre Augen sofort wieder schließen und öffneten sie nur langsam und millimeterweise wieder, denn der Anblick war so blendend, dass ihre Augen sich dagegen sträubten. Es war, als ob man mittags im Hochsommer direkt in die Sonne starrte. Denn die ganze Sandkuhle war bis zum äußersten Rand mit neuen glänzenden Goldstücken angefüllt. Schon da, wo der Karrenweg in die Sandkuhle einmündete, lag das Gold in Haufen; in der Kuhle selbst aber wölbte sich ein schimmernder Hügel zu den Steilwänden empor. Und der ganze blitzende, strahlende und funkelnde Berg bestand aus gemünztem Gold. Die Kinder standen mit offenem Mund da und brachten kein Wort hervor.

Schließlich bückte sich Robert und hob eine der Münzen auf, die am Rande des Haufens auf dem Karrenweg lagen, und betrachtete sie. Er schaute sich beide Seiten an. Dann sagte er mit einer leisen, veränderten Stimme: »Das sind keine Sovereigns*«.

*Sovereign ist die Bezeichnung einer englischen Goldmünze, mit der in England Anfang des 20. Jahrhunderts noch bezahlt werden konnte. Der Sandelf hat den Kindern nun aber goldene Guineas beschert, die in den Läden zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr angenommen wurden.

Eine Folge verpasst? Hier geht es zur letzten.

Der Sandelf aus der Feder der britischen Autorin Edith Nesbit (1858 bis 1924) erscheint im Herbst 2008 in der neuen ZEIT Kinder-Edition. Wir drucken Auszüge vorab.