Ohne Schuhe durch den Sommer: Ein Fuß berichtet
Von Katrin Hörnlein
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Das war knapp! Haarscharf bin ich neben dem Hundehaufen im Gras aufgekommen. Kühl schmiegen sich jetzt die Halme an mich – und kleine Sandkörner heften sich zwischen meine Zehen. Sie schubbern, als würde man mich mit Schmirgelpapier abreiben. Richtig trainiert bin ich wohl noch nicht, es pikst nämlich ordentlich. Doch das nehme ich gern in Kauf. Denn fort sind die Socken und die furchtbar warmen Schuhe. Endlich bin ich frei! Aber Verzeihung, wo bleiben meine Manieren. Ich sollte mich vorstellen: Gestatten, mein Name ist Fuß. Ganz unten am Körper ist mein Platz, und ich bin ein wahrer Kraftprotz. Jeden Tag trage und stemme ich das ganze Gewicht über mir.
In meinem Fall heißt das Gewicht Tim und ist elf Jahre alt. Im Moment darf ich täglich seine 38 Kilogramm schleppen. Obwohl ich das klaglos tue, geht Tim manchmal sehr flegelhaft mit mir um. Er stampft mich krachend auf den Boden, sodass in mir alles dröhnt. Das größte Übel aber ist, dass ich so oft eingesperrt bin. Leider! Ständig diese miefigen Turnschuhe… Eingebrockt haben mir die blöden Dinger schon die Menschen in der Antike. Vor Tausenden von Jahren trugen die Leute bereits Sandalen und Stiefel. In Europa begannen dann vor etwa 700 Jahren feine Herrschaften, Schuhe schick zu finden. Sie wollten damit zeigen, dass sie etwas Besseres sind. Die meisten Menschen liefen damals nämlich barfuß. Schönen Dank auch! Ich sehe ja ein, dass einige dieser Fußkleider mich heute schmücken. Doch wie viel Ungerechtigkeit herrscht gleichzeitig gegenüber Füßen! »Hey, coole Sneaker!«, sagen alle. Mir selbst gilt kaum je ein Kompliment. »Was für hübsche Füße du hast, Tim!« – Nie gehört. Allerdings muss ich eingestehen: Manchmal sind Schuhe meine Rettung: vor Glasscherben zum Beispiel, die es auf mich abgesehen haben. Auch im Winter jammere ich nicht mehr über Stiefel, seitdem Tim einmal barfuß mit mir in den Schnee gesprungen ist…
Vielleicht sollte ich erwähnen, dass ich eine Zwillingsschwester habe. Sie sieht genauso aus wie ich (nur seitenverkehrt) und lebt mir gegenüber. Aber viel mehr haben wir nicht gemein. Sie ist viel vorsichtiger als ich. Wenn Tim Fußball spielt, ist sie ihm zu zaghaft. Mit mir kann er viel härter schießen. Auch beim Springen kann ich Tim besser abstoßen. Kein Wunder, dass ich mein Schwesterchen ganz gern aufziehe, oder? Ich nenne sie »Füßchen« – was sie natürlich aufregt. Prahlhans und Rabauke antwortet sie mir. Frechheit!
Ganz allgemein werde ich von meiner Umwelt zu wenig gewürdigt – und das bei dem anstrengenden Job! Immerhin wird Tim mehr als 250 Millionen Schritte mit mir machen, bis er ein alter Mann ist. Damit könnte ich ihn etwa vier Mal um die Erde bringen. Richtig gut behandelt werde ich aber nur, wenn Tim krank ist, denn dann massiert seine Mama mich. Sehr angenehm! In China müsste man leben, denke ich dabei jedes Mal. Dort glauben nämlich einige Ärzte, dass in mir wichtige Nerven zusammenlaufen. Drückt man mich an einer bestimmten Stelle, dann gehen zum Beispiel Bauchschmerzen weg. Das Ganze hat den komplizierten Namen Fußreflexzonenmassage. Tims Mama sagt allerdings, Forscher hätten nicht bewiesen, dass es wirkt. Ich weiß es!
Meine Schwester fällt mir ziemlich auf die Nerven mit ihrer Besserwisserei. Ihre Lieblingsleier: Ich soll dankbar sein, dass wir an Tim hängen. Die Füße von Julia hätten es viel schwerer. Stimmt schon: Julia ist 16 Jahre alt, Tims Schwester und quetscht ihre Füße in enge Schuhe mit Absatz. Sie sagt, Männer finden Frauen mit hohen Hacken toll. Weil Julia bei den Jungs Eindruck schinden will, stakst sie stundenlang darin herum. Neulich beim Abendessen unterm Tisch haben Julias Füße mir und Füßchen unterm Tisch ihr Leid geklagt. Sie sahen aber auch mitgenommen aus – mit Blasen und gequetschten Zehen!
Sogar Ärzte sagen: Viel barfuß laufen ist gesund – für uns Füße und für den Rücken. Füßchen muss natürlich wieder die Barfuß-Begeisterung dämpfen: Wir sollten lieber froh sein. In einigen Ländern seien die Kinder so arm, dass sie sich gar keine Schuhe leisten könnten. Ein Paradies für mich! Aber Füßchen meinte, ich sei dumm. Die Kinder dort hätten oft nicht einmal genug zu essen. Da ginge es dann auch den Füßen schlecht. Zugegeben, das ist eine schlimme Vorstellung. Doch ich gebe die Hoffnung für die Rechte der Füße hierzulande nicht auf. Denn es gibt auch Menschen, die nicht arm sind und freiwillig barfuß laufen. Im Internet haben sie eigene Seiten eingerichtet. Die Füße dieser Menschen kommen dort natürlich mal wieder nicht zu Wort. Aber ihre Besitzer schreiben, wie toll es ist, ohne Schuhe zu laufen. Einige treffen sich in extra Barfuß-Parks. Davon gibt es inzwischen in ganz Deutschland welche, man kann dort über Steine, Rindenmulch oder durch Lehmschlamm wandern.
Gern würde ich auch an einem Indianerbein hängen; oder an dem von Huckleberry Finn, dem Jungen aus der Geschichte von Mark Twain; oder an Michel aus Lönneberga! Huck und Michel erleben ständig Abenteuer – und sehr selten tragen sie dabei Schuhe. Aber Tim liest zurzeit am liebsten Harry Potter. Jaja, ganz spannend, aber der Zauberer schwingt sich selten barfuß auf den Besen.
Man kann nicht alles haben. Wenn ich mir aber eine Sache wünschen dürfte, dann wäre es Urlaub in einem warmen Land mit Tempeln. Füßchen sagt, viele heilige Stätten dürfe man nur barfuß betreten. Damit zolle man den Göttern Respekt. Außerdem würden dreckige Straßenschuhe den heiligen Ort besudeln. Füßchen selbst reicht schon eine Reise nach Skandinavien. Dort ziehen viele Menschen sofort ihre Schuhe aus, wenn sie ein Haus betreten, und gehen auf Socken. Bis zu den Ferien begnüge ich mich mit einem Strand oder einer Wiese. Aber bitte ohne Hundehaufen!
Das Erinnere-Dich-Barfuß-Spiel. Finde die Paare: lauter Bilder zum Sommer