Wie ist es, wenn man dort zu Hause ist, wo andere Urlaub machen? Auf Sylt zum Beispiel? Prima! Erinnert sich Simone Kempf
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Auf den Kinderfotos, die meine Eltern ins Familienalbum einklebten, sind viele typische Motive zu sehen: Weihnachten vor dem Tannenbaum, Geburtstagsfeiern oder der erste Schultag mit Ranzen und Schultüte. Nur Urlaubsfotos gibt es in diesem Album nicht. Wir wohnten auf Sylt, einer Insel in der Nordsee mit viel Strand und einem wilden Meer, das in jedem Sommer die Gäste anlockte. Dass unsere Eltern nie mit uns in den Urlaub fuhren, begriff ich erst als Jugendliche. Als Kind hat es mich nie gestört. Im Gegenteil. Wir, meine Schwester und ich, lebten dort, wo andere ihre Ferien verbrachten. Warum sollten wir wegfahren? Womöglich noch im Sommer, wenn wir selbst nachmittags am Strand spielen konnten?
Unser Zuhause erschien uns spannend genug: Mit dem Leuchtturm, den wir aus dem Fenster sehen konnten; dem Schiffswrack im Wattenmeer, das bei Ebbe frei lag, bis es Klassenkameraden beim Zündeln in Brand setzten; mit den Trampelpfaden, die sich zwischen den Dünen schlängelten und die einem immer ein bisschen unheimlich erschienen – Sylt war lange Zeit der aufregendste Ort, den wir kannten.
Zugegeben, meine Vorstellungen über andere Inseln waren auch eher verschwommen: Palmenbewachsene Eilande in der Südsee, auf denen Seefahrer strandeten, stellte ich mir vor. Einsame Inseln wie die von Robinson Crusoe mit exotischen Papageien in den Baumkronen und Menschenfressern hinter der nächsten Ecke. Näher kamen uns da schon Inseln wie Saltkrokan, auf der Stina, Tjorven und der Hund Bootsmann leben. Astrid Lindgrens Buch Ferien auf Saltkrokran stand im Bücherregal unseres Wohnzimmers. Auf dem Einband war eine Insel zu sehen, so klein, dass nur ganz wenige Häuser daraufpassten. So wie sich Stina und Tjorven in der Geschichte über die Großstädter wunderten, die in einem roten Holzhaus den Urlaub verbrachten, beäugten auch wir neugierig die fremden Sommertouristen, die kamen und wieder verschwanden – aber irgendwie zu uns gehörten. Das Buch stand unter anderem deshalb bei uns im Regal, weil wir alles, was darin vorkam, selbst erlebten und genau wussten, dass man auf einer (echten) Insel im Sommer zusammenrückt, wenn die Gäste kommen.
Wer noch nie auf Sylt war, hat die typische Form dieser Insel wahrscheinlich trotzdem schon gesehen: als Aufkleber hinten am Autoheck zum Beispiel, mit der typischen lang gezogenen Form und einer Nase, die nach Osten ragt. Autofahrer, die so einen Aufkleber am Wagen haben, fahren im Sommer garantiert mit dem Autozug über den Eisenbahndamm nach Sylt. Der Rest kommt per Schiff oder landet mit dem Flugzeug auf dem Westerländer Flugplatz. Auf allen drei Wegen reisten schon immer viele Touristen an, so viele, dass meine Schwester und ich zum Ferienbeginn unser Kinderzimmer räumen mussten, weil es den Sommer über an Großstädter vermietet wurde. Die Eltern brauchten das Geld, um ihr Ziel zu verwirklichen: ein eigenes Haus zu bauen.
Wenn zum Ferienstart die ersten Gäste in unser Kinderzimmer einzogen, begann eine abenteuerliche Zeit. Weil in der Wohnung weniger Platz war, durften wir draußen spielen, sooft wir wollten. Die Großmutter brachte uns vom Kaufmann jeden Tag eine Süßigkeit mit, eine Lakritzschnecke oder eine weiße Maus. Und an den heißen Augusttagen gingen alle Kinder an die flache Wattseite der Insel, wo sich das Meer bei Ebbe bis auf einen schmalen Streifen am Horizont zurückzieht. Wir lernten, wie man Krebse aufspürt, die sich im Schlick vergraben, und sammelten Seesterne in Eimerchen. In solchen Momenten waren Urlaubs- wie Inselkinder gleich.
Nach dem Umzug in unser neues Haus, das fertig wurde, während ich die Grundschule besuchte, hatte ich ein eigenes Zimmer, das ich auch im Sommer nicht mehr räumen musste. Vorher war es eng gewesen – jetzt war ich öfter allein, und vielleicht ging es auch unseren Gästen so, die nun eine Wohnung mit allem Drumherum mieteten, statt sich mit uns die Küche zu teilen.
Dass die Insel- und die Gästekinder sich völlig gleichberechtigt begegneten, ist natürlich nur die halbe Wahrheit: Nicht dass wir sie als Eindringlinge betrachtet hätten, aber wenn wir abends länger aufbleiben durften als sie, spielten wir stolz unseren Heimvorteil aus. Wir wussten, wo man sich am besten verstecken konnte, und verrieten nur ungern unsere Lieblingsabkürzungen. Wen wir mochten, den nahmen wir mit zum Froschtümpel, den wir in den Dünen entdeckt hatten. Wenn man sich im nächsten Sommer wiedersah, spielte man weiter, wo man aufgehört hatte. Wenn man sich nie wiedersah, war auch das in Ordnung. Manchmal entstanden Freundschaften, die länger als die Ferien hielten, vor allem als wir älter wurden. Doch zugleich erwachte zu dieser Zeit in uns der Wunsch, auch andere Ecken der Welt kennenzulernen. Ich fuhr zum ersten Mal mit Freunden in den Urlaub, und am Ende der Schulzeit stand meine Entscheidung fest, von Sylt fortzugehen. Das Leben fernab der Insel kam mir gleichzeitig aufregender und einfacher vor. Statt auf die Sommergäste Rücksicht nehmen zu müssen, wollte ich lieber selbst Urlauber sein. Wenn ich heute in den Ferien nach Sylt fahre, besuche ich meine Mutter, die weiter dort lebt, und quartiere mich notfalls in mein altes Kinderzimmer ein. Heute gibt es immer mehr Ferienhäuser, und immer weniger Kinder müssen zum Anfang der Ferien in ihrem Zimmer Platz machen – auf Sylt jedenfalls. Anderswo auf der Welt ist das ganz anders: In Chile habe ich einmal eine Familie kennengelernt, die während der Ferien auf dem Zeltplatz campierte – um ihre Wohnung an Sommergäste zu vermieten.