In diesen Tagen reden alle von Olympia. Auch Friedrich. Der zwölfjährige Turmspringer hat das Zeug zum Spitzensportler
Von Tanja Busse
Ich will einmal zu den Olympischen Spielen fahren«, sagt Friedrich. »Egal, welcher Platz, einmal will ich dahin.« Friedrich Maul geht auf ein Sportgymnasium, deshalb gehört Turmspringen zu seinem Unterricht wie Mathe und Deutsch. Nur dass die Lehrer beim Turmspringen wohl noch strenger sind.
An diesem Montag kurz vor den Ferien übt Friedrich die Pflichtsprünge vom Einmeterbrett, zusammen mit Lars und Talisa, die auch in seine Klasse gehen. Ein junger Trainer sitzt am Beckenrand, beobachtet die drei genau und – meckert. »Leute, einen Pflichtsprung kann man nicht so auf den Rücken semmeln!«, ruft er. Und beim nächsten Sprung: »Nicht so steif!« Und beim dritten: »Die Arme nach vorne!«
Gleich knallen die Kinder ihre Handtücher auf den Boden und dampfen ab, wette ich. Das würde ich jedenfalls tun, wenn ich mir so viel Mühe geben und so elegant durch die Luft fliegen würde, gestreckt, gehockt und geschraubt, und mein Trainer immer noch nicht zufrieden wäre. Aber Friedrich, Lars und Talisa sehen das anders. »Der hat nicht gemeckert, der hat nur korrigiert!«, erklärt mir Friedrich.
Und so hören die drei genau zu, was jetzt wieder zu hackig, zu flach, zu rund oder zu schräg war. Und noch während sie zuhören, klettern sie ganz flink aus dem Wasser und wieder aufs Brett. Dort stehen sie ein paar Sekunden still – auch der Trainer sagt dann nichts –, atmen tief ein und spannen alle Muskeln an. In genau diesem Moment verwandeln sie sich aus Kindern in Leistungssportler.
Friedrich ist eher klein und schmal, doch wenn er Luft holt, auf dem Brett, vor einem dieser Wahnsinnssprünge, dann sieht man, was für Muskeln er hat. Und man versteht sofort: Jetzt gibt es nichts anderes mehr auf der Welt, nur einen Jungen, ein Sprungbrett und diesen Sprung.
Friedrich steht jetzt rückwärts auf dem Brett, mit dem Rücken zum Wasser, auf den Fußspitzen, alle Muskeln angespannt. »Arme vor!«, kommandiert der Trainer. Friedrich hält die Spannung. Wartet. Atmet. Wartet. Holt noch mal Luft. Und springt: rückwärts hoch in die Luft, klappt die gestreckten Beine wie ein Taschenmesser nach oben, streckt sich kopfüber nach unten und fliegt, den Kopf knapp am Brett vorbei, ins Wasser.
Wieder und wieder springt Friedrich, bis der Trainer zufrieden ist, dann kommen die nächsten Aufgaben: Salto vorwärts und rückwärts, doppelt und zweieinhalbfach, Auerbach (vorwärts abspringen und rückwärts drehen) und Delfin (rückwärts abspringen, vorwärts drehen). Vom Fünfmeterturm kommen noch Sprünge aus dem Handstand dazu. Friedrich springt zehnmal, zwanzigmal, fünfzigmal, noch immer ist die Stunde nicht zu Ende, und noch immer ist Friedrich nicht müde.
»Als ich ganz klein war, bin ich immer ins Wasser gesprungen, obwohl ich noch nicht schwimmen konnte«, sagt er. Da haben ihn die Eltern zum Schwimmkurs geschickt, als Kindergartenkind. Und es war sein Glück, dass er in Berlin wohnte, keine drei Kilometer von der großen Schwimm- und Sprunghalle an der Landsberger Allee entfernt, die 1992 gebaut wurde, als Berlin sich für die Olympischen Spiele beworben hatte. Heute trainieren dort die Leistungsschwimmer und -wasserspringer, auch Tobias Schellenberg, der in diesen Tagen in Peking startet und den Friedrich sehr bewundert. Die Trainer werfen ab und zu einen Blick auf die Jungen und Mädchen, die im flachen Wasser mit Schwimmflügeln herumplanschen, und gucken, wer Talent hat, Mut und keine allzu schweren Knochen. So wurde auch Friedrich entdeckt. Erst ging er einmal in der Woche zum Training, dann zwei-, drei- und schließlich viermal. Nach der Grundschule traf er die erste große Entscheidung für Olympia: Er wechselte auf ein Sportgymnasium, das Coubertin-Gymnasium. Sportlerinnen und Sportler aus mehr als zwanzig Sportarten – neben den Wasserspringern auch Schwimmer, Boxer, Bogenschützen, Turner, Eisschnellläufer – gehen dort zur Schule. In den Zeugnissen gibt es nicht nur Noten für die gewöhnlichen Schulfächer, sondern auch für sportliche Leistungen. Und was ist so toll am Turmspringen, dass man gar nichts anderes tun will? »Oh, schwere Frage«, sagt Friedrich und lacht: »Der Spaß, der Nervenkitzel und das irre Gefühl, wenn man einen neuen Sprung gelernt hat.«
Manchmal tut Turmspringen auch weh. Im dritten Schuljahr sollte Friedrich den doppelten Salto vom Einmeterbrett lernen, aber plötzlich hatte er Angst. »Meine Mutter sagte: Wenn du aufhören willst, dann kannst du aufhören«, erzählt Friedrich. »Aber man wollte das machen, man wollte unbedingt und hat sich nicht getraut und irgendwann ist man dann doch gesprungen.« Friedrich lächelt, als würde er diesen erlösenden Moment noch einmal erleben.
Vielleicht ist es das, was das Turmspringen ausmacht: sich zu fürchten und sich doch zu trauen. Viermal ist Friedrich auf den Zehnmeterturm gestiegen und wieder heruntergeklettert. Erst beim fünften Mal ist er gesprungen. Da war er in der ersten Klasse. Heute springt er einen eineinhalbfachen Salto vom Zehner.
Bei den deutschen Sommermeisterschaften ist er gerade Dritter vom Fünfmeterturm geworden. Von dort nach Olympia ist der Weg noch »un-end-lich weit«, sagt Friedrichs Trainer. »Der Bengel ist jetzt zwölf, das heißt, er muss noch mindestens zwölf Jahre weiter so gut trainieren.« Friedrich hat das vor: »Mein neuer Sprung ist der doppelte Salto aus dem Handstand rückwärts vom Fünfer. Für die Olympiade wäre das ein dreifacher Salto, rückwärts, aber vom Zehner.« Sein Trainer hält das für ein erreichbares Ziel.