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Alis Glück

 

Mullah Machmud hat den kleinen Waisenjungen Ali aus Teheran bei sich aufgenommen. Doch mit elf Jahren soll Ali seinen Lebensunterhalt selbst verdienen: Als Laufbursche bei dem hartherzigen Gewürzhändler Amir. Wird das gut gehen?

Von Ulrich Ladurner

Alis Glück© Lalage Snow/AFP/Getty Images

Ali weiß nicht allzu viel von Allah, und doch geht er jeden Tag in die Moschee, um zu beten. Er ist es so gewohnt – und er ist Allah dankbar. Denn ohne ihn hätte er vielleicht Mullah Machmud nicht kennengelernt. Der Mullah (das ist ein islamischer Geistlicher) hat Ali vor einem bösen Schicksal bewahrt. Alis Eltern kamen nämlich bei einem Autounfall ums Leben, als er sieben Jahre alt war, und niemand wusste so recht, was mit dem kleinen Jungen zu tun sei. Er hatte keine Verwandten.

Da riefen die Nachbarn den Mullah. Dieser kratzte sich den Bart, schaute auf den weinenden Ali und sagte in ruhigem Ton: »Du bleibst vorerst mal bei mir!« Geblieben ist Ali eine ganze Weile. Aber als er elf Jahre alt wurde, sagte Mullah Machmud: »Es ist Zeit, dass du mich verlässt und selbstständiger wirst!« Ali erschrak, denn er war gerne im Hause des Mullahs. Das Essen schmeckte ihm zwar nicht, und manchmal war Mullah Machmud auch sehr streng und teilte Kopfnüsse aus. Trotzdem gefiel es Ali hier: Das Haus war im Winter wohlig warm und kühl im Sommer. Da ist sehr wichtig, denn Teheran, die Hauptstadt Irans, kann winters bitterkalt sein und sommers glühend heiß.

»Was haben Sie vor?«, fragte Ali den Mullah mit kratziger Stimme. Er hatte einen Kloß im Hals. »Ich werde Amir fragen, ob er eine Arbeit für dich hat.« Da erschrak Ali noch mehr. »Amir!«, dachte er. »Bitte nicht zu Amir! Bitte!« Er traute sich aber nicht, etwas zu sagen. Mullah Machmud mochte es nicht, wenn man ihm widersprach. Ali schwieg daher und betete. Der Mullah sagte, er werde in der kommenden Woche mit Amir sprechen. »Dann ist er aus Mekka zurück.«

Ali hatte aus gutem Grund Angst vor Amir. Der besaß einen Laden am Asadi-Platz im Süden Teherans und war ein gerissener Geschäftsmann, der immer nur daran dachte, wie er sein Geld vermehren konnte. Für Kinder hatte er nicht viel übrig. Selbst seine eigenen Söhne interessierten ihn kaum, es sei denn, sie halfen ihm beim Geldverdienen. Die Leute im Viertel sagten über Amir, dass er sogar seine Großmutter verkaufen würde, wenn es sich denn lohnte. Die meisten waren deshalb überrascht, als Amir nach Mekka aufbrach, zur Heiligen Stadt der Muslime. Jeder Muslim sollte zwar einmal im Leben nach Mekka reisen, doch ist diese Reise sehr teuer, und Amir war ja so geizig. Aber er fuhr, und die Nachbarn konnten sich nicht erklären, warum.

Als Amir aus Mekka nach Teheran zurückkam, bereitete ihm seine Familie ein Fest. Das ist Tradition. Tradition ist es auch, dass alle Nachbarn in das Haus des Pilgers kommen, um ihn zu sprechen und sich verköstigen zu lassen. Amir ärgerte sich über diesen Brauch, denn er sah nur, wie die Nachbarn, die er ohnehin nicht besonders mochte, sein Geld verprassen würden. Immerhin versuchte er sich damit zu trösten, dass er sich nun »Hadschi Amir« nennen konnte. Die Pilgerreise nach Mekka heißt nämlich Hadsch. Wer sie erfolgreich unternimmt, darf den Zusatz Hadschi in seinem Namen führen. Das ist schon fast eine Art Adelstitel.

»Hadschi Amir, Hadschi Amir«, murmelte Amir vor sich hin, während er mit versteinertem Gesicht zusah, wie die Nachbarn sein Essen verschlangen. Doch Allah wäre nicht Allah und eine Pilgerfahrt wäre keine Pilgerfahrt, wenn sie aus dem missgünstigen Amir nicht irgendwie einen besseren Menschen gemacht hätte. Und dieses Wunder geschah, kurz bevor der Mullah zu Amir kam, um mit ihm über Ali zu sprechen.

Am Tag nach dem Willkommensfest behauptete eine Frau, dass der Reis, den sie in Hadschi Amirs Geschäft gekauft hatte, Wunder wirke. Die Frau hatte seit Jahren unter einem hartnäckigem Hautausschlag gelitten. Das war im Viertel bekannt, denn sie beklagte sich laut und oft darüber. Plötzlich aber war der Ausschlag verschwunden, über Nacht. »Ich habe bei Hadschi Amir eingekauft! Er hat mich gerettet!«, jubelte die Frau. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Hadschi Amirs Laden füllte sich mit Menschen. Sie kauften den ganzen dort gelagerten Reis. Und als keiner mehr zu haben war, kauften sie andere Waren, Gewürze, Hülsenfrüchte, Tee, ja sogar Kekse der Marke Tuc, die allgemein als ungenießbar galten. Über Hadschi Amirs Laden, da waren sich alle sicher, musste ein Segen liegen. Der Geschäftsmann saß hinter dem Ladentisch und sah ungläubig zu, wie alle Regale leer gekauft wurden. Am Abend zählte er die Geldscheine. Es waren so viele, dass er sie auf dem Tisch stapeln musste. »Oh Allah!«, rief er aus. »Oh Allah, du meinst es gut mit mir!« In diesem Moment betrat Mullah Machmud den Laden.

»Es ist schön, dass du dich bei Allah bedankst«, sagte der Mullah.

Hadschi Amir schaute überrascht auf.

»Da wir schon beim Thema sind, da gibt es auch eine Sache, die du für Allah tun könntest«, sagte der Mullah. Er setzte sich Hadschi Amir gegenüber und brachte ihm sein Anliegen vor. Nach wenigen Minuten sagte Hadschi Amir: »Der kleine Ali soll mir willkommen sein. Allah schickt ihn zu mir!«

Und so kam es, dass Ali bei Hadschi Amir als Laufbursche Arbeit bekam. Er hatte ein gutes Leben dort, denn Hadschi Amir war überzeugt, dass Ali ihm Glück bringen würde (er meinte damit: Geld), denn sonst hätte Allah den Jungen ja nicht zu ihm geschickt