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Wenn es dunkel wird

 

Licht bestimmt unser Leben: Bei Licht kann man lesen, lernen und arbeiten. Wir aber begleiten unseren Autor Ulrich Baron bei einem Ausflug in die Finsternis

Eulen© Hulton Archive/Getty Images

Im Winter vor einigen Jahren hatte ich eine alte Villa an der Nordsee gemietet. Dass ich sie für mich allein haben würde, hatte ich erwartet. Nicht aber, dass ich erst in finsterster Nacht ankommen würde. Zum Eingang des Hauses führten mich Lichter, wie von Geisterhand geschaltet und ebenso schnell wieder erloschen, wie sie aufgeflammt waren. Vielleicht kennt ihr das auch von zu Hause: Das Gartenlicht geht automatisch an, wenn jemand den Weg betritt.

Drinnen im Haus war es dunkel. Das wenige Licht von draußen verlor sich schon nach der ersten Biegung der Wendeltreppe, die ins obere Stockwerk führte. Und nun erinnerte ich mich auch wieder daran, dass die Schalter im Treppenhaus schon bei meinem letzten Besuch alt gewesen waren und das Licht nach wenigen Sekunden wieder ausgehen ließen. Die Hälfte des Weges musste ich also mit der schweren Tasche im Dunkeln zurücklegen. Ich sah nicht, was hinter der nächsten Biegung auf mich lauerte. Gerade als das Licht verlosch, nahm ich diese Biegung ein wenig zu schwungvoll und stieß gegen etwas Weiches. Dann legten sich kalte Arme um meinen Hals, und ein leichter Körper sank auf meine Schultern.

In diesem dunklen Moment wollte ich auf keinen Fall in Panik geraten! Solange mich das Wesen aus dem Dunkel nur umarmte, drohte Gefahr ja eher von der steilen Treppe – wie leicht konnte ich ausrutschen und fallen! Ich brauchte dringend das Geländer als Orientierung.

In einem dunklen Raum weiß man nämlich bald nicht mehr, wo vorn und wo hinten ist. Wie bei dem Spiel Blindekuh, wo man mit verbundenen Augen so lange gedreht wird, bis man in die falsche Richtung läuft. Nur hat man als blinde Kuh keinen Reiter im Nacken. Folglich wäre ich jetzt schon für den schwächsten Lichtschimmer dankbar gewesen.

Die ängstlichen Gefühle, die jeder Mensch im Dunkeln hat, machen auch das Feuer so anziehend. Bis zur Erfindung des elektrischen Lichts war man abends und nachts darauf angewiesen. Wachskerzen und Lampenöl waren teuer; Kienspäne und Talglichter leuchteten nur schwach und rußten umso stärker. Nächtliches Lesevergnügen war Luxus, und wer sparsam war, aber nicht im Dunkeln bleiben wollte, musste am Herdfeuer oder in der Wohnstube sitzen. Die Menschen suchten nach Beschäftigungen, die bei solchen Lichtverhältnissen möglich waren – Handarbeiten etwa, Gespräche oder Geschichtenerzählen.

Heute steht an der Stelle des Herdfeuers oft der Fernseher und macht Gespräche überflüssig. Aber so gemütlich wie vor dem Kamin ist es vor dem Bildschirm nicht. Eine Kaminrunde in stürmischer Nacht, ein Essen bei Kerzenlicht beschwört Zeiten herauf, in denen das Dunkel voller Gefahren steckte, voller wilder Tiere und anderer Gestalten der Finsternis. Ja, die Finsternis bringt Gestalten hervor – so scheint es uns zumindest, weil unser Gehirn das Wenige, was unsere Augen bei Nacht wahrnehmen können, zu Bildern zu ergänzen versucht.

An einem Lagerfeuer angekommen, das man schon von Weitem gesehen hat, merkt man zum Beispiel bald, wie klein der Kreis ist, den es erhellt. Und seine flackernden Flammen täuschen Bewegungen vor, wo gar keine sind. Im Zwielicht, wo die Dunkelheit Überhand nimmt, scheinen seltsame Wesen zu lauern, mal Baumstumpf und dann wieder etwas anderes, mal etwas Kauerndes, dann – dort drüben! – eine huschende Bewegung.

Das ist die Zeit für Gespenstergeschichten – und für Expeditionen ins Dunkel. Schon wenige Schritte vom Feuer entfernt spürst du, wie deine Augen sich an die Finsternis gewöhnen, wenn sie nicht mehr von den Flammen geblendet werden. Zum Feuer zurück kann dich sein Schein jederzeit führen – aber fern davon, im Mondlicht, liegt eine Welt, die weit weniger beunruhigend ist als jene Zwielichtzone voller hüpfender Schatten. Es ist eine stille Welt ohne Farben, denn bei so schwacher Beleuchtung erscheinen nicht nur Katzen grau. Gehst du dann langsam zurück, rufst du zum Feuer herüber, dann kommt dort Unruhe auf, denn man sieht dich noch nicht. Noch bist du selbst Teil jenes Dunkels, das die Feuerstelle umgibt, und für die, die dort sitzen, trittst du erst daraus hervor, wenn du fast schon wieder ganz zurück bist. So spielen Licht und Schatten mit unseren Augen.

Zurück aber kurz noch zu meiner finsteren Nacht an der Nordsee: Dort leuchtete kein Feuer, und vor mir und hinter mir lagen nur die steilen Stufen einer Treppe, die mich aus normaler Dunkelheit in eine noch tiefere Finsternis geführt hatte.

Ich bin dann mit der geheimnisvollen Last auf meinem Rücken weitergestiegen. Auf dem oberen Stockwerk angekommen, konnte ich den Lichtschalter ertasten. Er gab dem Druck meiner Hand nur langsam nach.

Dann wurde es hell.

Ich setzte die Tasche ab und löste die Ärmchen von meinem Hals. Sie gehörten zu einer großen Weihnachtsmannpuppe, mit der die Hausvermieter die Treppe dekoriert hatten. Doch wenn ich mich recht entsinne, habe ich die Puppe am nächsten Tag nicht mehr gesehen, und danach fragen mochte ich auch nicht.