Wer bei eisigen Temperaturen schwimmen geht, braucht Mut. Gänsehaut und klappernde Zähne kommen von ganz allein
Von Susanne Prebitzer
© Cancan Chu/Getty Images
Das Freibad schlummert in tiefer Winterstarre: Eine hauchdünne Schicht Eis liegt auf dem Wasser, im Rasen glitzert Raureif, und der nächste Sommer ist noch weit weg. Doch plötzlich ertönen Kichern und Rufe, und Kinder in bunten Bademänteln sausen am Beckenrand entlang. Sie trippeln mit ihren Latschen im Eiltempo über den Weg. »Los, schnell«, ruft jemand. Nur nicht bummeln, rein ins Wasser. Ein Kind nach dem anderen zieht den Bademantel aus, geht ins Schwimmbecken und taucht ein. Manche halten die Luft an, andere quieken laut auf, denn das Wasser ist eisig! Nur 2,3 Grad Celsius zeigt das Thermometer.
Die acht Jahre alte Jona schwimmt mit flinken Zügen, lacht und prustet. Etwa eine halbe Minute hält sie durch, dann muss sie schnell wieder raus. Sie schnappt ihr Handtuch und flitzt ins warme Wasser des Innenbeckens. Geschafft! Die Haut des Mädchens fängt an zu kribbeln, und alles wird herrlich heiß. Jetzt kann Jona in Ruhe erzählen: Einmal in der Woche kommt sie mit den anderen hierher, ins Schwimmbad des Örtchens Neukirchen im Bundesland Hessen. Denn hier kann man mit den Schwimmlehrern jeden Winter eisbaden.
»Es macht Spaß, weil es so schön kalt ist«, sagt Jona. Vor dem Eintauchen versucht sie sich vorzustellen, das Wasser wäre wie in der Badewanne. Maja ruft sogar laut: »Es ist ganz warm, es ist ganz warm!« Jonas dagegen schwimmt los – ganz ohne einen Mucks! Später erzählt der elf Jahre alte Junge: »Sobald du die Bauchnabelgrenze erreichst, wird es kritisch.« Weiter untertauchen kostet ihn dann richtig Überwindung. »Wenn du längere Zeit drin bist, eine Minute oder so, und die Hände und Finger bewegen willst, dann schmerzen die richtig.« Laetitia, die acht Jahre alt ist, sagt: »Manchmal ist die Haut wie versteinert, man spürt nichts mehr.«
Eisbaden ist Stress – aber gesunder, sagen Ärzte. Wer regelmäßig in so eisigem Wasser badet, gewöhnt seinen Körper an Kälte. Der lässt dann mehr Blut durch die kleinen Adern unter der Haut fließen. So behalten Eisbader bei frostigen Temperaturen länger warme Füße und Finger als untrainierte Menschen. Und die Eisbader fangen sich nicht so schnell Krankheiten ein. Denn bei ihnen strömt auch durch die Adern in der Nase und im Rachen mehr Blut – und damit auch viele Abwehrkämpferzellen. Diese bekämpfen Erkältungskeime, die in Nase und Rachen angreifen.
Dass kaltes Wasser abhärtet, wissen die Menschen schon lange, erzählt Rainer Brenke. Er ist Chefarzt an einer Klinik in Nassau in Rheinland-Pfalz und hat sich viel mit Eisbaden beschäftigt. »So richtig aufgekommen sind Behandlungen mit kaltem Wasser vor etwa 100 bis 150 Jahren«, sagt er. Heute ist Eisbaden vor allem in Ländern Nordeuropas und im Osten verbreitet – in Finnland, Schweden oder Russland zum Beispiel. Wenn die Seen oder das Meer dort zufrieren, hacken oder sägen die Menschen sogar Löcher ins Eis und klettern dadurch ins Wasser.
Ist kein See oder Meer in der Nähe, tut es auch ein Schwimmbad – wie in Neukirchen. Dort geht das Kälte-Training jedes Jahr nach den Herbstferien los. 65 Mädchen und Jungen machen in diesem Winter mit. Für jeden hat die Schwimmlehrerin Birgit de Taillez einen kleinen Pinguin oder Eisbären an eine Tafel geheftet. Dort sind Eisschollen wie Spielfelder aufgezeichnet. Für jedes Mal eisbaden rutscht die Figur eine Scholle weiter. Am Ende wartet der große Eisberg. Wer so weit kommt, erhält einen Plüsch-Eisbären und eine Urkunde zur Belohnung.
Strenge Regeln gibt es übrigens nicht. Jeder entscheidet selbst, ob er kurz bis zum Bauch reingeht, weiter untertaucht oder sogar ein paar Züge schwimmt. Wer genug hat, hört auf. Das ist wichtig. Denn richtige Eisbadewettkämpfe können gefährlich werden, warnt auch der Arzt Rainer Brenke. »Dann wird man ehrgeizig, und kann leicht übertreiben«, sagt er. »Man will vielleicht länger drinbleiben, obwohl man schon unterkühlt ist.«
Doch wenn man es richtig macht, ist Eisbaden gesund. »Es ist auch eine Ablenkung gegen Stress in der Schule«, sagt Jonas. »Man ist für einen Moment geschockt, wenn man ins kalte Wasser kommt. Dann ist alles wie weggeblasen, weil du nur noch versuchst, da rauszukommen.« Und hinterher kann man richtig stolz auf sich sein.
»Das ist Mut hoch drei«, findet auch der Bürgermeister von Neukirchen, Klemens Olbrich. Er selbst wagt sich nicht ins kalte Wasser und schaut nur ab und an zu. Oft bereitet ihm das Schwimmbad Sorgen, weil es den kleinen Ort viel Geld kostet. Jedes Jahr wird überlegt, ob das Bad geschlossen werden muss. »Doch es ist fast das Einzige, was Kinder hier haben«, meint die Schwimmlehrerin. Dieses Jahr kann es weitergehen. »Für 2009 ist nicht geplant, das Freibad zu schließen«, sagt der Bürgermeister. Und die Kinder hoffen weiterhin auf klirrende Kälte. Denn viele denken wie die sechsjährige Paula: »Am coolsten ist es, wenn richtig Eisschollen da sind!«