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Boxen ist brutal, gefährlich und nur etwas für Jungen? Von wegen! Auch Mädchen können gute Boxerinnen werden
Von Alexandra Frank
Gerade noch rechtzeitig kann Leyla Horn zur Seite hüpfen, da fliegt schon die rechte Faust des Gegners zentimeterscharf an ihrem Gesicht vorbei. Der Angreifer lässt nicht locker: Schon schießt seine Linke hervor. Die Vierzehnjährige duckt sich so schnell, dass ihre braunen Locken durch die Luft fliegen. Das war knapp. Leyla mustert ihr Gegenüber, einen gleichaltrigen Jungen, der einen halben Kopf größer ist als sie – und sie grinst. »Nicht schlecht«, nuschelt sie. Sprechen ist nicht einfach, denn in ihrem Mund steckt ein Mundschutz aus Gummi für ihre Zähne. Aber Leyla ist auch nicht zum Reden hier. Rasch hebt sie selbst die Fäuste, die in dicken rot-schwarzen Handschuhen stecken, wirft den Arm nach vorn und trifft ihren Gegner an der Schulter.
Leyla ist Boxerin. Seit gut einem Jahr kommt sie zweimal in der Woche in die Hamburger Boxschule Agon und lernt Kämpfen. Das mag manchen überraschen, denn Leyla ist hübsch, zierlich – und eben ein Mädchen. Die meisten Leute haben ein anderes Bild im Kopf, wenn sie an Boxer denken: zwei Meter große Kerle wie die Klitschko-Brüder, mit Händen wie Schaufeln, Armen, dicker als anderer Leute Oberschenkel, und mit kantigen Gesichtern.
Ricarda Nimphy lacht, wenn sie solche Beschreibungen hört. Sie ist 1,50 Meter groß, elf Jahre alt, stupsnasig und trainiert seit sieben Monaten zusammen mit Leyla. »Klar«, sagt sie, »die meisten sind sehr verwundert, wenn ich ihnen von meinem Hobby erzähle, weil sie denken, dass Boxen brutal ist.« Aber wenn Freunde oder Verwandte sie entsetzt fragen, ob der Sport nicht viel zu gefährlich sei, ist sie um eine Antwort nicht verlegen. »Beim Fußball oder beim Reiten verletzt man sich doch viel schneller«, sagt sie. »Da gibt es ständig Verrenkungen oder Brüche.« Beim Boxen hat Ricarda sich bislang nur einmal Nasenbluten geholt.
Auch Leyla hat keine Angst vor einem blauen Auge oder einer gebrochenen Nase. »Schließlich ist das hier hartes Training und keine Modenschau.« Sie trägt eine Sporthose und ein weißes T-Shirt, die langen Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Boxen gefällt ihr aus demselben Grund, den auch viele Jungen nennen, die den Sport betreiben: sich auspowern zu können und Kondition aufzubauen. Fast die Hälfte des Boxunterrichts besteht aus hartem Fitnesstraining: Strecksprüngen, Liegestützen, Sprints durch die Halle. »Und warum«, fragt Leyla, »sollen Mädchen eigentlich fürs Boxen weniger geeignet sein als Jungs?«
Ihr Trainer Frank Rieth gibt ihr recht. Er hält nichts davon, zwischen Sportarten für Mädchen und Jungen zu unterscheiden, deshalb trainieren in seiner Gruppe alle zusammen. Im Jugendunterricht sind die Jüngsten neun Jahre alt, die Ältesten 15. Noch sind in Rieths Sportschule die Jungen in der Überzahl – auf zehn Boxer kommen etwa drei Boxerinnen. Deutschlandweit sind boxende Mädchen und Frauen noch seltener. So zählt der Deutsche Boxsport-Verband etwa 6000 Boxer, aber nur rund 220 Boxerinnen. »Allerdings«, sagt Rieth, »sind die Mädchen oft besonders ehrgeizig bei der Sache.«
So haben auch Ricarda und Leyla rote Wangen vom Training bekommen. Ihre Füße trampeln über den hellen Boden, die Boxhandschuhe klatschen dumpf aufeinander, Frank Rieths Stimme schallt durch die Halle. Paarweise haben sich die Jugendlichen zusammengefunden, um Schlag- und Abwehrtechniken zu üben. Schnell hat sich die Luft erhitzt, die Boxschüler keuchen vor Anstrengung. »Geh mehr ran an deinen Gegner, Leyla!«, ruft Frank Rieth seiner Schülerin zu. »Komme nicht an ihn ran, er hat zu lange Arme!«
»Dann geh halt einen Schritt vorwärts.« – »Dann laufe ich in seine Linke.« – »Dann musst du den Kopf wegdrehen.« Ausreden lässt der Trainer nicht gelten. Mit rotem Kopf trippelt Leyla von einem Fuß auf den anderen und versucht es erneut. »Jammer nicht! Kämpf!«, ruft Rieth ihr zu und wendet sich dann an Ricarda, die mit einem älteren Jungen trainiert. »Du musst mehr pendeln«, rät er ihr, »den Oberkörper von rechts nach links schwingen.« Schnell kontrolliert Ricarda ihre Haltung in den bodentiefen Spiegeln, die an den Hallenwänden hängen. Sie ist einen ganzen Kopf kleiner als ihr Trainingspartner, aber sehr wendig. Überhaupt hat die Größe eines Boxers nicht viel zu bedeuten. »Es gibt doch berühmte Boxerinnen, zum Beispiel Susi Kentikian oder Regina Halmich«, sagt Ricarda. Die seien nicht viel größer als sie und mehrfache Boxweltmeisterinnen.
Auch für Leyla sind diese Frauen ein Vorbild. »Susi Kentikian«, schwärmt sie, »boxt so konzentriert.« Sie hat sich vorgenommen, genauso gut zu werden. »Und wenn ich etwas will, dann halte ich auch durch«, sagt sie. Sie wischt sich den Schweiß von der Stirn und hebt erneut die Fäuste. Im Laufe des Unterrichts steckt sie doch noch einige Schläge ein. »Meine Schwäche ist die Deckung«, sagt sie selbstkritisch. Aber das ist für sie nur eine weitere Herausforderung. Als sie sich zum ersten Mal in einem Wettkampf mit einer fremden Gegnerin maß, siegte sie hochüberlegen. »Mein Ziel ist es, Profiboxerin zu werden«, sagt sie.