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Die Baumakrobaten und Wandflitzer

 

© Theo Heimann/ddp
© Theo Heimann/ddp

Frühling ist Eichhörnchenzeit: Jetzt kommt der Nachwuchs zur Welt

Von Susanne Gaschke

Schrrrrrrrrrrrrppppppppp, schrrrrrrrrrrrpppppppp, schrrrrrrrrppppp« – eines Tages im vergangenen Herbst saß ich zu Hause am Schreibtisch, als ich plötzlich auf ein seltsames Kratzgeräusch aufmerksam wurde. Ich schaute aus dem Fenster, und mir fielen fast die Augen aus dem Kopf: Ein Eichhörnchen kletterte senkrecht an der glatten Hauswand hinauf! Im Maul trug es einen Zweig, der größer war als es selbst. Mühsam schleppte es seine Last auf ein Fensterbrett im vierten Stock. Vielleicht dachte es, dies könnte ein warmer Platz für ein Nest sein. Aber es hatte Pech: Kaum war es oben angekommen, fiel ihm der Zweig wieder hinunter. Ich weiß, dass manche Biologen nicht viel davon halten, wenn man Tieren menschliche Gefühle unterstellt, aber ich schwöre: Dieses Eichhörnchen sah frustriert aus, als es dem Zweig hinterherblickte. Dann kletterte es die Wand kopfabwärts wieder hinunter.
Solche akrobatischen Leistungen  schafft das Eichhörnchen, indem es sich mit seinen starken Krallen an winzige Unebenheiten in Hauswänden oder Baumstämmen klammert. Es kommt nur selten vor, dass Eichhörnchen zu Tode stürzen. Denn sie haben einen unglaublich guten Gleichgewichtssinn und können vier bis fünf Meter von einem Baumwipfel zum nächsten springen. Wenn sie verfolgt werden, werfen sie sich zur Not auch von 10 bis 20 Meter hohen Bäumen hinunter. Dabei benutzen sie ihren buschigen Schwanz als Fallschirm, der sie abbremst. Der Schwanz ist sowieso eine tolle Sache: Die Hörnchen können sich damit größer machen, wenn sie Feinde beeindrucken wollen; im Winter gibt er eine kuschelige Decke für die Jungen ab, und im Sommer spendet er Schatten.
Die Eichhörnchen, die in meinem Hinterhof leben, rasen auf ihren immergleichen Rennstrecken durchs Geäst der Bäume und schwingen mit Vorliebe an den äußersten Zweigspitzen einiger großer Kiefern hin und her. Die Samen aus Kiefernzapfen fressen sie besonders gern. Sie verputzen täglich 100 Gramm Samen bei 300 bis 500 Gramm Hörnchen-Körpergewicht! Die Eichhörnchen nagen dafür etwa hundert Zapfen ab. Außerdem mögen sie natürlich Nüsse. Und Beeren, Vogelfutter, Melone, ungezuckerten Zwieback – mit alldem dürft Ihr sie füttern, wenn Ihr in Eurer Nähe welche entdeckt. Den Antrieb zur selbstständigen Futtersuche verlieren sie dadurch nicht. Und sie sind sehr schlau, wenn es ums Essen geht: In Skandinavien und Sibirien, wo im Winter tiefer Schnee liegt, trocknen die Tiere Pilze in Astgabeln, um sie für die kalte Zeit aufzubewahren. Wenn sie sich von Räubern beobachtet fühlen, graben sie zur Ablenkung Futterverstecke, in die sie gar nicht wirklich etwas hineinlegen. Damit sie immer gut Nüsse knacken können, achten sie auch auf ihre Zähne: Zum Putzen ziehen sie sich kleine Äste durchs Maul.
Die Eichhörnchen bei uns bekommen einmal, bei gutem Futterangebot auch zweimal im Jahr Junge. Gerade jetzt werden viele Eichhörnchenkinder geboren. Fünf Wochen lang sind sie blind. Etwa zehn Wochen bleiben sie bei der Mutter im Nest, dem Kobel, und werden gesäugt. Den Vater sieht man in dieser Zeit nie zu Hause: Er kommt erst im Winter zurück, um sich wieder ins Familiennest zu kuscheln.
Leider fallen junge Eichhörnchen manchmal aus dem Nest. Durch lautes Pfeifen versuchen sie dann, ihre Mutter auf sich aufmerksam zu machen. Wenn Ihr ein Eichhörnchen-Waisenkind findet, kommt es auf zwei Dinge an: Lässt sich die Mutter nicht blicken, müsst Ihr das Hörnchen wärmen (sie kühlen rasend schnell aus). Das geht am besten in Euren Händen. Keine Sorge – falls die Mutter doch noch auftaucht, stört sie der Geruch nicht. Und dann braucht das Hörnchen dringend Wasser. Ihr könnt seine Lippen benetzen und ihm (vorsichtig!) mit einer Plastikspritze ein paar Tropfen einflößen. Weil das richtige Füttern und Aufziehen eines jungen Eichhörnchens wahnsinnig schwierig ist, solltet Ihr Euer Findelkind danach zu einer Auf-zucht-station bringen (Informationen beim Eichhörnchen-Notruf unter 0700-200 200 12).
In Deutschland gibt es immer noch vor allem rote Eichhörnchen. In Italien und in Großbritannien breiten sich aber mit großer Geschwindigkeit amerikanische Grauhörnchen aus. Sie werden zu einer Gefahr für die roten: Die grauen sind ihnen in vielen Punkten überlegen und verdrängen sie ziemlich ruppig. Besonders die Briten, die ein sehr liebevolles Verhältnis zu ihren roten Eichhörnchen hatten, sind erbost. Vor einiger Zeit gab es sogar eine Eichhörnchen-Debatte im Oberhaus, dem Teil des britischen Parlaments, in dem die Adeligen sitzen. Ein gewisser Lord Hoyle beklagte dort die Frechheit der Grauhörnchen: In einem Londoner Park sei eines an seinem Hosenbein hochgeklettert – und habe ihn dann auch noch gebissen! In Großbritannien wollen deshalb manche Leute die grauen Eichhörnchen auf die Speisekarte setzen: »Iss ein graues, um ein rotes zu retten«, lautet ihr Wahlspruch. Allerdings sollen Eichhörnchen nicht besonders gut schmecken, also wird diese Idee wohl keinen Erfolg haben.
Und bei meinen roten Freunden im Hinterhof denke ich sowieso nicht an den Kochtopf. Sondern lasse mir lieber etwas einfallen, wie man die alleinerziehenden Eichhörnchenmütter, die jetzt so viele Kinder zu versorgen haben, bei der Futtersuche unterstützen kann. Deshalb gibt es eine Extraration Walnüsse auf meinen Fensterbänken. Dass sie den Weg dorthin kennen, weiß ich ja.