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Ein Sommer im Wilden Westen

 

KinderZEIT© Dennis Williamson
Noa und Lina treten bei den Karl-May-Spielen in Bad Segeberg auf. Seit Monaten üben sie reiten, lernen schauspielern und pauken Texte. An diesem Samstag ist Premiere


Von Hauke Friederichs

Der schwarze Hengst galoppiert einen Hügel hinunter. Im Sattel sitzt ein Mädchen mit wehendem braunem Haar, die das Pferd antreibt. »Winnetou!«, schreit sie, so laut sie kann. »Old Firehand!« Das Mädchen ruft um Hilfe, denn sie flieht vor einer Gaunerbande, die ihr auf Pferden dicht hinterherjagt. Sand spritzt auf, der Hengst wiehert laut.»Danke!«, ertönt da eine Männerstimme »Die Szene machen wir gleich noch mal.« Denn diese Verfolgungsjagd ist Teil eines Theaterstückes. Noch wird geprobt, und der Regisseur ist nicht ganz zufrieden. Deshalb muss die junge Reiterin die Szene wiederholen. Das Mädchen heißt Noa, ist zwölf Jahre alt, besucht ein Gymnasium in Hamburg und wird einen Sommer lang im Wilden Westen Abenteuer er­leben. Na ja, eigentlich wird sie diese Abenteuer spielen. Denn Noa hat gemeinsam mit der zehnjährigen Lina eine Kinderrolle bei den Karl-May-Spielen in Bad Segeberg.
Karl May war ein Schriftsteller, der Geschichten über den Wilden Westen schrieb. Diese Geschichten spielen vor rund 200 Jahren, als Siedler mit Planwagen Nordamerika erschlossen. Karl May hat zum Beispiel den edlen Indianerhäuptling Winnetou erfunden, den starken Cowboy Old Firehand und einige echt gemeine Gangster. Bei den Karl-May-Spielen in Bad Segeberg wird jedes Jahr eine andere Geschichte des Autors als Theaterstück aufgeführt – unter freiem Himmel. In diesem Jahr Der Schatz im Silbersee. Und Noa und Lina sind dabei. Die beiden Mädchen werden vor Tausenden Zuschauern auftreten. An diesem Samstag (27. Juni) ist Premiere.
Noa und Lina teilen sich eine Rolle. Sie spielen die Ingenieurtochter Ellen Patterson. Bei den Auftritten wechseln sie sich ab: Eine ist am Nachmittag dran, die andere am Abend. 36 Aufführungen wird jede bis zum 6. September haben, dann endet die Saison im Freilichttheater.
Damit es keine Pannen gibt, proben die Mädchen seit Mai fast täglich. Ihr Weg in den Wilden Westen begann aber bereits im März. Damals wählte der Regisseur der Karl-May-Spiele die Schauspieler aus, Casting sagt man dazu. Noa und Lina überzeugten ihn: Sie können reiten, sind sportlich und sehr gut in der Schule. Gute Noten sind wichtig, weil beide einige Unterrichtsstunden verpassen. Denn nicht alle Proben können nachmittags oder am Wochenende sein.
Ende Mai, 32 Tage vor der Premiere, stehen Noa und Lina zum Beispiel vor einer Schneiderin, statt in der Schule zu sitzen. Beide bekommen ein Wildwestkostüm, das extra für sie angefertigt wird: Über einer Hose werden sie ein Kleid tragen. Zu den Proben werden die Mädchen von den Eltern gefahren. Im Auto lernen sie für die Schule und machen Hausaufgaben. Das Leben als Schauspielerin kann ganz schön anstrengend sein! Aber es macht auch mächtig Eindruck: »Meine Freunde finden voll cool, was ich hier mache«, sagt Lina.
Zwei Tage später haben Noa und Lina einen anderen wichtigen Termin. Es sind noch 30 Tage bis zur Premiere, und der Bürgermeister von Bad Segeberg empfängt die Schauspieler im Rathaus. In seiner Rede nennt er die Mädchen talentierte »Greenhörnchen« (Greenhorn ist englisch und bedeutet Neuling). Alle schauen die beiden an, Fotografen machen Bilder, Noa und Lina werden ein wenig rot.

Am Wochenende nach dem Empfang stehen die Nachwuchsschauspielerinnen zum ersten Mal in der Theater-Arena. Arbeiter bauen die Kulisse, mehrere Holzhäuser bilden eine Westernstadt. Noa und Lina können inzwischen ihren Text auswendig, jetzt lernen sie, wo sie wann in die Arena kommen und entlangreiten sollen. 26 Tage bevor die ersten Besucher das Stück sehen, proben die Darsteller noch ohne Kostüme und Requisiten (so heißen die Gegenstände, die Schauspieler im Stück verwenden). Die Cowboys haben zum Beispiel noch keine Revolver. Stattdessen bilden sie mit Zeigefinger und Daumen eine Pistole und rufen »Peng! Peng!«, wenn sie so tun, als würden sie schießen.
Anfang Juni trägt Lina bei den Proben Lederstiefel und einen weißen Rock – ganz fertig ist ihr Kostüm aber bisher nicht. Sie reitet auf dem Hengst Jack durch die Arena, und ihre Haare flattern im Wind. Lina galoppiert zwischen den Zuschauerreihen hindurch. Noch sind sie leer, aber in 19 Tagen werden hier bis zu 7500 Menschen sitzen – und alle werden Lina oder Noa zusehen.

Acht Tage vor der Premiere wird es für die Mädchen spannend: Bei der großen Pressevorführung treten die beiden mit den anderen Schauspielern vor Journalisten auf. Das erste Mal spielen sie vor Publikum. Alle tragen nun ihre Kostüme, und auch alle Requisiten sind da. Die Platzpatronen der Revolver knallen, und es gibt sogar eine künstliche Explosion. Zum Glück ist der Hengst Jack, den Noa und Lina reiten, an den ganzen Lärm gewöhnt und erschrickt kaum.
Wenn Noa durch die Arena galoppiert, drückt Lina ihr die Daumen – und umgekehrt. Denn die beiden Mädchen haben sich angefreundet, gehen in den Pausen gemeinsam in die Pizzeria, spielen Kniffel, helfen sich beim Striegeln von Jack und lachen viel.
Wer bei der Premiere spielen wird, ist noch nicht entschieden. Noa und Lina werden kurz vorher losen. Die Gewinnerin steht bei der Eröffnung im Rampenlicht, die andere darf die letzte Vorführung im September spielen. Doch egal, wer von beiden wann in der Arena auftritt, Noa und Lina wünschen sich vor allem eins: keine Pannen im Wilden Westen!