Viele Jugendliche und sogar Kinder glauben, dass sie zu dick seien. Sie wollen aussehen wie Supermodels. Dieser Schlankheitswahn ist gefährlich: Schnell wird aus dem Traum von der tollen Figur der Albtraum Magersucht
Von Katrin Hörnlein
Das Mädchen vor dem Spiegel ist dünn, unfassbar dünn. Ihre Knochen stehen hervor, die Rippen zeichnen sich unter der Haut ab. Die Beine sind so dick wie bei anderen Menschen die Arme. Doch im Spiegel sieht das dünne Mädchen etwas ganz anderes. Da gibt es noch Fett am Bauch. Der Po ist ihr zu breit, die dünnen Beinchen zu schwabbelig.
»Solche Mädchen sehen sich dicker, als sie sind. Das Gehirn spielt ihnen einen Streich«, sagt Dr. Joachim Walter vom Kinderkrankenhaus Wilhelmstift in Hamburg. Der Arzt und seine Mitarbeiter versuchen hier Mädchen zu helfen, denen das Gehirn so einen Streich spielt. Einen gefährlichen Streich. Denn diese Mädchen sind schwer krank. Sie haben es verlernt, normal zu essen, manchmal sogar überhaupt zu essen. Und wer nicht isst, der stirbt. Das ist furchtbar, aber die Wahrheit.
»Mädchen mit einer Essstörung finden sich immer zu dick. Ihr Körper ist für sie wie ein Kostüm, das sie mit ihrer Willenskraft verändern können«, erzählt Andreas Jordan, pädagogischer Leiter der Station für Essstörungen im Wilhelmstift. Viele sind sehr ehrgeizig, sie wollen möglichst wenig Nahrung zu sich nehmen. Manche verschlingen dann doch große Mengen und übergeben sich anschließend. Andere schlucken Tabletten, von denen sie Durchfall bekommen. Gleich ist bei allen, dass sich das ganze Leben nur noch ums Essen dreht.
Mein Leben wird allein durch mein Gewicht bestimmt. Meine Laune, mein Denken, mein Fühlen. Es ist nur noch eins wichtig: die Zahl auf der Waage.« So beschreibt Celina, die mit 16 Jahren im Wilhelmstift behandelt wurde, ihre Gefühle. Besonders wenn man in die Pubertät komme und der Körper sich verändere, sei die Gefahr groß, eine Essstörung zu entwickeln, sagen Fachleute. Mädchen erkranken häufiger als Jungen. In einer Studie fanden Forscher heraus, dass jeder fünfte Jugendliche in Deutschland nicht normal isst oder sich Sorgen um seine Figur macht. »Die Erkrankten werden immer jünger. Wir haben schon Zehnjährige in der Klinik«, sagt Andreas Jordan.
Wie viele Menschen magersüchtig sind, weiß niemand genau. Viele verheimlichen die Krankheit. Sie sind Meister im Ausredenerfinden: »Ich hab mir unterwegs schon ein Brötchen gekauft.« – »Ich frühstücke jetzt immer zu Hause.« – »Mir ist nicht gut, ich möchte nichts essen.« Oft kommen sie damit lange Zeit durch, bis es Eltern, Geschwistern, Lehrern oder Freunden merkwürdig vorkommt. »Die Magersucht ist eine leise Krankheit. Die Betroffenen schneiden sich nicht die Haut auf oder verprügeln andere«, erklärt Dr. Walter, »deshalb sind die Kranken oft so unauffällig.«
Doch warum hören sie auf zu essen? Das hat ganz verschiedene Gründe. Einige fühlen sich pummelig, andere sind durch Modelshows im Fernsehen beeinflusst, finden dünne Sängerinnen toll. Natürlich ist keine Modelsendung allein dafür verantwortlich, dass Menschen krank werden. Doch je öfter man schlanke Menschen im Film oder auf einer Bühne sieht, desto mehr setzt sich in den Köpfen fest: So muss man aussehen.
Auch in den Familien werden Werte weitergegeben, sagt Andreas Jordan. »Wenn man ein Kind fragt, was eine Diät ist, sagt es oft: Das macht Mama, damit sie Papa besser gefällt. Die Botschaft am Ende lautet: Wenn ich abnehme, gefalle ich.« Meist geht es bei einer Essstörung auch um Gefühle. Vielleicht gibt es Streit in der Familie. Dann setzen besonders Jüngere das Hungern als Waffe ein, zum Beispiel wenn die Eltern getrennt sind. Eine Mitarbeiterin des Wilhelmstifts erzählt: »Plötzlich sorgen sich dann beide Eltern und kommen gemeinsam in die Klinik. Für die Kinder ist das Ergebnis: Ich esse nicht, und Mama und Papa sind wieder zusammen.«
Langsam und schleichend übernimmt dann die Krankheit die Kontrolle. Die Betroffenen können nicht mehr aufhören abzunehmen. »Es macht mir Angst, weil ich weiß, was ich meinem Körper antue, und es trotzdem nicht lassen kann«, beschreibt Jana (17 Jahre) ihre Krankheit. Karen, ebenfalls 17, erinnert sich: »Ich versuchte alles, damit niemand etwas merkte. Ich hatte Angst, dass mir jemand das Abnehmen verbieten könnte.« Zur Essstörung gehört, dass Betroffene nicht sagen: Ich bin krank. Deshalb können Freunde schwer helfen. »Wenn man als Kind den Verdacht hat, dass eine Freundin eine Essstörung hat, sollte man immer Erwachsenen Bescheid sagen«, rät Dr. Walter.
Die Krankheit kann schlimme Folgen haben. Die 14-jährige Felicitas konnte in der Schule nur eine halbe Stunde lang sitzen, weil ihr die Knochen wehtaten. Um sechs Uhr abends war sie so erschöpft, dass sie nur noch schlafen wollte. In Kliniken wie dem Wilhelmstift sollen Kinder und Jugendliche wie sie lernen, wieder normal zu essen. Für viele ist genau das sehr schwer. »Sie ekeln sich vorm Essen«, sagt die Ärztin Imke Neemann. Und von einer Essstörung loszukommen bedeutet auch, Abschied zu nehmen. »Ich weiß, das hört sich ziemlich komisch an«, versucht die zwölfjährige Christin zu erklären, »aber es war schwer, etwas aufzugeben, womit ich so viel Aufmerksamkeit bekam!«
Geschichten über Essstörungen sind oft furchtbar. Wir erzählen sie hier trotzdem. Weil es vielleicht hilft, dass weniger Kinder und Jugendliche krank werden. Weil ihr vielleicht bei euren Freunden hinseht und nachfragt. Und weil ihr nicht blind daran glauben solltet, dass im Schlanksein das Glück zu finden ist.