Von Milena Sagawa-Krasny
Hey, ist dir langweilig?«, flüsterte eine Stimme. Finn zuckte zusammen. Ihm gegenüber stand ein Junge, der ihn herausfordernd ansah. Finn zuckte mit den Schultern und strich sich eine seiner roten Locken aus der Stirn. »Ja, eigentlich schon.« Anfangs war der junge Schotte begeistert gewesen, dass sie Urlaub in Spanien machen würden. Aber das war viel langweiliger, als er gedacht hatte. Mutter und Vater latschten den ganzen Tag herum, blieben bei jedem Laden stehen und sagten: »Ach, ist das nicht schön!«, und dazu zeigten sie auf Strohesel oder kitschige Porzellanfiguren. Wirklich nicht interessant.»Ich wüsste eine gute Ablenkung«, meinte der Junge, und seine Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen. »Aber wahrscheinlich bist du zu feige.« Finn erhob sich zu seiner vollen Größe. »Für was soll ich zu feige sein?« – »Dafür, in die Drachenhöhle zu gehen«, meinte der Junge, hocherfreut darüber, dass Finn so schnell angebissen hatte. Finn runzelte die Stirn. »Drachenhöhle?« – »Sag bloß, du hast noch nichts davon gehört? Am Ende einer riesigen Höhle soll ein Drache schlafen!« Finn schüttelte den Kopf. »Du spinnst wohl.« – »Und du hast Angst!« – »Gar nicht wahr!«, widersprach Finn heftig. »Ich werde in die Höhle gehen und zum Beweis einen Stein mitnehmen!« – »Ich werde erkennen, ob es wirklich ein Stein aus der Höhle ist. In drei Tagen bin ich wieder hier, dann zeig mir den Stein«, sagte der Junge und rannte lachend davon.
Finn ging los, aber er wusste nicht, wo diese Höhle war. »Am besten, ich gehe ins Hotel und frage die Empfangsdame«, dachte er. Die Empfangsdame schlug die Hände vor ihren mit Lippenstift nachgezogenen Mund. »Die Drachenhöhle ist kein Ort für kleine Jungs. Geh lieber auf den Spielplatz.« Finn schaute finster. Er war schon zwölf. Auf den Spielplatz ging er seit fünf Jahren nicht mehr. Da erinnerte er sich an eine Familie im Hotel, die schon oft in Spanien gewesen war. Sie hatte auch einen Sohn, der nur zwei Jahre jünger war als Finn. Vielleicht wusste er, wo die Drachenhöhle war!
Finn fuhr also mit dem Lift in das Stockwerk, wo diese Familie wohnte. Als er anklopfte, öffnete ihm der Junge. Er trug eine Augenklappe über dem linken Auge und hatte ein Piratenkostüm an. In seinen braunen Augen funkelte etwas Fröhliches. »Hallo!«, sagte er und schaute Finn neugierig an. »Hey, kannst du mir helfen? Ich möchte gerne zur Drachenhöhle.« Der Junge nickte eifrig. »Klar, die hab ich schon oft gesehen! Aber dann nimmst du mich mit rein, ja?« – »Okay.« – »Cool, danke!«, rief der Junge und umarmte Finn stürmisch. Unterwegs erzählte Finn von dem Jungen, der ihn herausgefordert hatte. Sein neuer Freund, der übrigens Marco hieß, war begeistert. Auch er kannte die Legende von dem Drachen, und er wollte sich so gerne davon überzeugen, ob es diese Kreatur wirklich gab.
Als sie die Höhle betraten, griff Finn nach einem Stein und wollte gehen, aber Marco bettelte: »Ach, komm schon, lass uns weitergehen. Bitte!« Finn ließ sich erweichen, und so gingen sie weiter. »Fantastisch! Hier gibt es wirklich sehr schöne Steine«, hörten sie plötzlich jemanden murmeln. Ein asiatisch aussehender Junge hockte auf dem kalten Fels, in der Hand eine Lupe, und untersuchte das Gestein. Nicht weit von ihm entfernt saß ein Mädchen mit Federschmuck und Kriegsbemalung, das ihm ohne große Begeisterung zusah. »Was macht ihr denn da?«, fragte der Junge mit der Lupe erstaunt, als er Marco und Finn entdeckte. Die beiden erklärten. »Ich komme mit!«, rief das Mädchen und sprang auf. »Ich heiße übrigens Yara.« Der Japaner ließ seine Lupe in der Manteltasche verschwinden. »Mein Name ist Sasuke. Dann werde ich auch mitkommen.« Als sie fast am Ende der Höhle angelangt waren, hörten sie plötzlich ein tiefes Schnarchen. »Der Drache!«, flüsterte Marco ehrfürchtig. »Quatsch!«, widersprach Sasuke. »Es gibt keine Drachen!« – »Natürlich gibt es sie. Das ist der Drache aus der Legende!«, flüsterte Marco. Finn schwieg, Angstschweiß bildete sich auf seiner Stirn. Konnte die Legende wahr sein? »Vielleicht ist es auch nur ein Wanderer«, meinte Yara. Sie klang aber nicht besonders überzeugt. »Schauen wir einfach nach!«, sagte Marco und schlich voran.
»Ah!«, schrie er plötzlich. Finn stürzte los und blieb abrupt stehen. Er stand am Rand einer tiefen Schlucht, und am bröckelnden Stein hielt sich Marco fest. Die Angst war ihm in sein kreidebleiches Gesicht geschrieben. Finn streckte die Hand aus, und Marco klammerte sich fest. Aber seine Haut war so schwitzig. »Ah!«, schrie Finn, als auch er hinabrutschte. Starke, sehr knochige Arme schlangen sich um seine Hüften. »Ich zieh euch raus!«, rief Sasuke. Er zog und zog, und nach ein paar qualvollen Minuten saßen die vier Kinder keuchend nebeneinander. »Das war knapp!«, sagte Yara matt. »Aber habt ihr gesehen? Hinter der Schlucht ging die Höhle noch weiter …« Ein lautes Brüllen ließ sie innehalten. Eine schreckliche Kreatur rauschte über ihre Köpfe hinweg: eine riesige, geflügelte Echse mit zornig funkelnden Augen. Sie öffnete das Maul und entblößte zwei Reihen messerscharfer Zähne. Ein Feuerball bildete sich auf der knallroten Zunge, den sie blitzschnell ausspie. »Pass auf!«, schrie Finn und zerrte Sasuke aus dem Weg. Fauchend spie der Drache erneut Feuer, dann flog er schnurgerade in die Tiefen der Schlucht. Ein paar Minuten sagte keiner etwas. Da ertönte ein hektisches Trippeln. »Oh nein, oh nein!«, stöhnte eine Stimme. Ein Wesen kam um die Ecke. Es glich einem Biber, nur dass Finn noch nie einen Biber gesehen hatte, der sich auf zwei Beinen fortbewegte. »Ich fasse es nicht!«, rief das Geschöpf. »Ihr habt es tatsächlich fertiggebracht, den Drachen aufzuwecken. Und nun ist er auch noch ins Land der Fantasie geflogen. Vielen Dank!«, rief der Biber wütend.
Sagt mal, habt ihr auch einen Drachen und einen sprechenden Biber gesehen?«, murmelte Yara. »Ich bin keine Halluzination! Und dieser Drache war es auch nicht!«, keifte der Biber. »Meine Güte, nur weil ihr noch nie ein sprechendes Tier gesehen habt, müsst ihr ja nicht gleich reagieren, als wärt ihr nervenkrank!« Der Biber schüttelte den Kopf. »Ich werde es euch erklären. Früher war die Welt in schönster Ordnung: Sprechende Tiere, Einhörner, Drachen und Feen – all diese Geschöpfe lebten mehr oder weniger friedlich mit den Menschen. Doch die Menschen machten Jagd auf uns, und wir zogen uns zurück in unser eigenes Reich, das Land der Fantasie. Nur ein fürchterlicher Drache störte unsere Ruhe. Ein Jahrhundert lang arbeiteten Elfen an einem Zaubertrank, der ihn in einen tiefen Schlaf versetzen sollte. Sie flößten ihm den Trank ein und schafften ihn in diese einsame Höhle. Tausend Jahre ging alles gut – und nun ihr!« – »Es tut uns leid!«, sagte Finn. »Wir wussten doch nicht, dass es hier wirklich einen Drachen gab. Und außerdem sind wir in Lebensgefahr geraten. Da geht es nicht immer leise zu.« – »Leid tun reicht nicht«, winkte der Biber mürrisch ab. »Ihr habt den Drachen aufgeweckt, jetzt müsst ihr ihn wieder zum Einschlafen bringen und hierher zurückschleppen.« – »Was? Und wie sollen wir das anstellen?«, rief Sasuke entsetzt. »Ihr Menschen habt doch nicht umsonst das größte Gehirn. Also setzt es gefälligst ein!«, meinte der Biber. »Ab ins Land der Fantasie!«
Etwas Schweres, Braunes rauschte durch die Luft und landete neben den Kindern. Es war ein Koffer. »Rein mit euch!«, sagte der Biber und hüpfte hinein. Zögernd folgten die vier. »Was sind das für Bücher?«, fragte Yara und musterte die Bände. Der Biber hob seine Schultern. »Zurückgelassenes Eigentum der Menschen, die vorher mit diesem Koffer geflogen sind – wahrscheinlich. Ich kann nicht lesen.« Der Koffer erhob sich und sauste in die Tiefe. Yara nahm eines der Bücher und begann zu lesen. Sasuke folgte ihrem Beispiel, Marco schaute lieber aufmerksam hinunter. Und Finn war vollauf damit beschäftigt, sich nicht zu übergeben. Aus der Richtung des Bibers drang bald lautes Schnarchen.
»Hey, Leute, ihr glaubt nicht, was hier steht«, flüsterte Yara plötzlich. »Diese Bücher hier, das sind Tagebücher von Kindern«, sagte jetzt Sasuke. »Der Biber hat uns voll angelogen! Von wegen, seit tausend Jahren hat niemand den Drachen gestört! Es kam immer wieder vor, dass Kinder ihn aufgeweckt haben.« Yara blätterte durch die Bücher: »Hier haben Amélie, Tom und Manuel geschrieben, dass sie im Juli 1984 mit ihm zu tun hatten. Sasha und Elena 1991. Thea, Vicki, Anne-Marie und Pepe 2005. Und so geht es munter weiter.« – »Hier steht noch: September 1998, Maria und Nathan haben ihn mit Gesang und Tanz wieder zum Schlafen gebracht.« – »Was für ein lustiger Drache! Er liebt Musik«, sagte Sasuke. Finn und Marco waren völlig überrumpelt. »Das klingt aber nicht nach einer gefährlichen Bestie …« Misstrauisch betrachteten sie den Biber. »Vielleicht hat er einen Hang zum Übertreiben«, sagte Yara. »Vielleicht können wir dem Drachen ja helfen, im Land der Fantasie zu bleiben«, meinte Marco. Ja, der Vorschlag, das Fabelwesen zu beschützen, gefiel allen!
Der Koffer tauchte in schillerndes Zauberwasser ein. Der Biber grunzte und regte sich. »Aussteigen!«, rief er. Yara und Sasuke legten die Bücher zurück und sprangen aus dem Koffer. Sie standen am Rand eines Flusses, nicht weit von ihnen grasten schneeweiße Einhörner, winzige Elfen tanzten über großen Blumen. »Ihr seid nicht zum Sightseeing da«, fauchte der Biber, »hier lang.« Eine Weile marschierten sie, und Finn wünschte sich mindestens sechs Augen mehr. Er wollte alles sehen: unglaublich hohe Bäume, wild vor sich hin wuchernde Sträucher, Kobolde, Gnome, Elfen, Feen, Einhörner und andere Geschöpfe, die rasch davonliefen, sobald sie die Menschen sahen.
»So!«, sagte der Biber. Sie standen vor einer riesigen Höhle. »Dort wurde der Drache geboren. Und weil Drachen immer eine besondere Bindung zu ihrem Geburtsort haben, wird er höchstwahrscheinlich hierher zurückgekehrt sein. Also dann, viel Glück!« – »Was?«, Sasuke wurde blass. »Wir sollen es ganz allein mit einem Drachen aufnehmen?« Der Biber nickte vergnügt. »Wo bleibt euer Selbstvertrauen? Habt ihr nicht sonst eine Menge davon?« – »Kommt schon«, sagte Yara. »Wie passend, dass ich eine Kriegsbemalung habe. Mein Großvater wäre sehr erfreut, wenn er das wüsste.« Finn nahm allen Mut zusammen und ging vor.
Der Biber hatte recht. Dort in der Höhle hockte tatsächlich der Drache. »Ihr schon wieder«, schien sein Fauchen zu bedeuten. Er richtete sich auf und flog auf Yara zu. »Wir wollen dir nichts antun. Wir wollen dir helfen!«, rief das indianische Mädchen und wich zurück. »Helfen?« Die Stimme des Drachen war rau und sehr kraftvoll. »Wie sollen vier Menschlein mir helfen?«, sagte er und gab ein heiseres Lachen von sich. »Alle sagen, du bist gefährlich. Alle Kinder bringen dich wieder zur Höhle in der Menschenwelt«, sagte jetzt Finn und hoffte, dass seine Stimme nicht so piepsig klang, wie er glaubte. Der Drache senkte seinen schuppigen Kopf und stieß ein Seufzen aus. »Ja, alle denken, ich würde nur töten und reißen. Aber das stimmt nicht. Jeden Tag brauche ich mehrere Stunden Schlaf. Wenn ich den bekomme, bin ich das sanftmütigste Wesen, das man sich vorstellen kann.« – »Hört zu, ich habe mir etwas ausgedacht«, sagte Marco, senkte die Stimme zu einem Flüstern und weihte seine Freunde und den Drachen ein.
Wenig später spazierten die Kinder an einem reißenden, azurblauen Fluss entlang, dicht gefolgt vom Biber. »Was, ihr habt es noch nicht geschafft den furchtbaren Drachen einzufangen?«, sagte dieser entsetzt. »Entschuldige, lieber Biber, aber das ist sehr schwer. Er ist eine gefährliche Kreatur«, sagte Finn. Der Biber brummte: »Ja, da habt ihr recht.« – »Gibt es denn noch andere Drachen, Herr Biber?«, fragte Yara, wobei sie sich ziemlich lächerlich vorkam, den Biber mit »Herr« anzusprechen. Der schien aber geschmeichelt. »Ich muss zugeben, ihr seid ausgesprochen nette Menschen!«, meinte er. »Ich bin sicher, ihr erledigt diesen gemeinen Drachen in null Komma … Vorsicht, Junge!« Ein gellender Schrei zerriss die milde Luft. Sasuke hatte sich zu weit über die Brüstung gebeugt und war in den Fluss gefallen. »Hilfe!«, kreischte er und ruderte mit den Armen. Die Strömung riss ihn mit. »Ich werde ertrinken!«, schrie der Japaner, und in sein schmales Gesicht war Angst geschrieben. Plötzlich rauschte der Drache durch die Luft. »Hab keine Angst, Menschenkind!«, sprach er und fischte Sasuke mit seinen Pranken behutsam aus dem Wasser. Er flog zur Brücke und setzte das Kind vorsichtig ab. Sasuke zitterte am ganzen Körper: »Danke, Drache.«
Von überall her kamen die Bewohner des Landes. Feen und Elfen flatterten herbei, Einhörner kamen angetrabt, ein geflügeltes Pferd erschien majestätisch, und etliche sprechende Tiere näherten sich. Alle Blicke richteten sich auf den Biber. »Hast du nicht immer gesagt, Cornelius sei das Gefährlichste, was man sich vorstellen kann?«, rief ein Elefant. »Ja, genau! Aber Cornelius hat gerade ein Menschlein vor dem Tod bewahrt!«, riefen zwei Zwillingszebras. Yara und Finn tauschten ein Lächeln. Das klappte ja wie am Schnürchen. »Bitte, hört mir zu!«, bat der Drache. »Ich bin gütig. Aber jeden Tag muss ich ganz lang schlafen, und wenn man mich da aufweckt, werde ich zu der Bestie, vor der euch der Biber warnte.« Lauter »Aha!«-Rufe hallten durch die Luft. »Wir werden dafür sorgen, dass du deinen Schlaf kriegst«, versicherten die Tiere und Fabelwesen. Der Drache strahlte: »Danke, liebe Freunde!« Und von dem Tag an konnte Cornelius, der Drache, endlich wieder in seiner Heimat leben. Wenn er mittags in seine Höhle tapste, belegten die Elfen sie mit einem starken Zauber, sodass kein Geräusch Cornelius störte.
Die Kinder waren den Rest der Ferien unzertrennlich. Sie besuchten die Eisdiele, badeten und spielten Badminton. Doch die meiste Zeit sprachen sie über ihr Abenteuer. Yara hatte ein Buch mit rotem Einband gekauft, und zusammen diktierten sie Finn, was sie im Land der Fantasie erlebt hatten. Gemeinsam entschieden sie auch, ihr Buch in die Bibliothek des Ferienortes zu geben. Wenn Du einmal Urlaub in Spanien machst, könntest Du Ausschau nach einem roten Buch mit dem Titel Die etwas anderen Ferien halten.