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Wettstreit der Ideen

 

KinderZEIT© Andrea Steffen
In drei Wochen wählen wir einen neuen Bundestag. Deshalb werben die Parteien für ihre Pläne – und um die Stimmen der Menschen

Von Susanne Gaschke

Mitten in der Nacht geht es los: Kleine Lastwagen fahren zu einer einsam gelegenen Fabrikhalle. Ein schmaler Lichtstrahl fällt durch das riesige Tor auf den Vorplatz. Junge Leute in schmutzigen Pullovern wuchten große, flache Gegenstände auf die Ladeflächen. Ist das Diebesgut? Sind es gefälschte Kunstwerke?
Nein, hier beginnt kein Krimi. Aber spannend ist es durchaus: Die jungen Leute beteiligen sich am Wahlkampf zur Bundestagswahl. Die ist in drei Wochen, am 27. September. Jeder Deutsche ab 18 Jahren kann dann die Partei und den Kandidaten wählen, von denen er glaubt, sie würden das Land am besten regieren.

© Andrea Steffen
© Andrea Steffen

Die großen flachen Gegenstände sind Wahlplakate, die in den vergangenen Wochen in der Halle sorgfältig beklebt wurden: meist mit Fotos von freundlich dreinblickenden Damen und Herren, die sich dieses Mal zur Wahl stellen und die mit den Plakaten für sich werben. Die jungen Leute, die hier gerade schuften, sind Mitglieder einer Partei. Die ganze Nacht über werden sie die Plakate an jeden Laternenpfahl hängen, den sie in ihrer Stadt finden können. Sie tun das, ohne Geld dafür zu bekommen, weil sie möchten, dass ihre Partei bei der Wahl gewinnt. Wahrscheinlich treffen sie auf ihrer nächtlichen Tour auch Mitglieder anderer großer und kleiner Parteien, die ebenfalls nach Plätzen für ihre Plakate suchen.
Doch warum sind alle nachts unterwegs? Das Plakateaufhängen ist ausdrücklich erlaubt, aber die begehrten Pfähle stehen an viel befahrenen Straßen, weil die Plakate hier von vielen Menschen gesehen werden. Auf solchen Straßen sollte man tagsüber, bei vollem Verkehr, besser nicht herumspringen. Nachts ist es weniger gefährlich. Und am anderen Morgen sehen sehr viele Leute auf dem Weg zur Arbeit sofort: »Oh, es ist wieder Wahlkampf!«
Dass bei uns alle Erwachsenen wählen dürfen, ist nicht selbstverständlich. Und auch dass Menschen sich zu Parteien zusammenschließen, in denen sie über Politik streiten und Beschlüsse fassen können, ist etwas Besonderes. Dass der Wahlkampf bei uns ein Kampf mit Worten ist und kein Kampf mit Waffen, ist wunderbar, wenn man bedenkt, wie es in früheren Zeiten war – und anderswo auf der Welt immer noch ist.
Als noch Raubritter, Fürsten und Könige herrschten, durfte niemand wählen. Wer den Mächtigen widersprach, konnte ins Gefängnis kommen. In Ländern wie Afghanistan ist es auch heute gefährlich, sich an einer Wahl zu beteiligen, weil sich manche Menschen dort mit Gewalt durchsetzen wollen.
Dass unsere nächtlichen Plakatierer sich nicht um die Plätze an den Laternenpfählen prügeln, funktioniert auch nur, weil sich bei uns alle an die Regeln halten: Ein Wahlkampf ist bei uns ein Wettstreit der Meinungen, der Vorschläge und Ideen. Zu einem solchen Wahlkampf gehören kleine Bretterbuden der Parteien in den Innenstädten, an denen die Mitglieder für ihre Partei werben. Wer vorbeikommt, kriegt Luftballons, Kugelschreiber und gelegentlich Kuchen. Aber niemals Prügel, nur weil er anderer Meinung ist.
Viele Menschen mögen Parteien, Politiker und Wahlkämpfe trotzdem nicht. »Parteien und Politiker kümmern sich sowieso nicht darum, was das Volk will«, sagen sie. Wer so denkt, vergisst, dass Parteien aus normalen Men­schen bestehen. Sie kommen zusammen, weil sie ähnliche Vorstellungen haben: ob man zum Beispiel Atomkraft benutzen sollte; wie viel Geld der Staat seinen Bürgern wegnehmen darf, wenn er Steuern erhebt; und ob man dieses Geld für Schulen ausgibt oder um Oma die Rente zu erhöhen.
Auch in den einzelnen Parteien sind sich die Mitglieder über diese Dinge oft nicht einig und müssen sich zusammenraufen. Parteien brauchen sich also gar nicht so sehr darum zu sorgen, was das Volk will; sie sind selbst wie das Volk. Wobei das Volk sowieso kein guter Ausdruck ist: In unserem Land leben 80 Millionen Menschen. Sie haben ganz unterschiedliche Wünsche und Pläne. Wer sagt, eine Partei achte nicht auf das Volk, denkt meist eher: Sie achtet nicht genug auf mich! Ähnlich wie mit Parteien ist es mit Politikern: Sie sind auch normale Menschen und werden nur dadurch zu Politikern, dass andere Menschen sie gewählt haben. Warum sollten sie plötzlich nur noch an sich denken? Und falls sie immer schon nur an sich gedacht haben: Warum haben die anderen sie dann gewählt?
Die Leute, die keine Wahlkämpfe mögen, finden oft auch, dass dabei zu viel gestritten wird und dass die Parteien Sachen versprechen, die sie hinterher sowieso nicht halten. Das mit dem Streit stimmt – denn genau dafür sind die Wahlkämpfe da! Es geht darum, dass jeder klar sagt, was er möchte und warum er die Argumente des Gegners nicht so gut findet. Und die Wahlversprechen? Natürlich sagt jede Partei zuerst einmal, was sie gern machen würde, wenn sie das Land nach einer Wahl ganz allein regieren könnte. Aber weil es bei uns mindestens fünf Parteien gibt, die eine gute Chance haben, in den Bundestag zu kommen, ist das sehr unwahrscheinlich. Voraussichtlich müssen sich zwei oder drei Parteien zusammentun, um eine Regierung bilden zu können – und das heißt auch, dass sie sich nicht allein mit ihrer Meinung durchsetzen können. Sie müssen sich einigen, und dafür gibt jeder ein bisschen nach. Das gehört auch zu den Spielregeln.
Schmutzig wird es noch einmal nach der Wahl, wenn die Parteien die oft ziemlich ramponierten Plakate wieder einsammeln müssen. Leider ist das Aufräumen nach der Wahl nicht so spannend wie die Politik. Aber wenn es erledigt ist, können wenigstens alle Helfer ihre dreckigen Pullis in die Waschmaschine tun.