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Lernen unterm Baum

 

© Nikolas Postel
© Nikolas Postel

Viele deutsche Schüler stöhnen über das Ende der schönen langen Sommerferien. In Mosambik haben die Kinder ganz andere Probleme, zum Beispiel zu wenig Klassenzimmer

Von Tonio Postel

Stellt Euch vor, die Lehrerin unterrichtet unter einem Baum. Stellt Euch vor, die Schule fällt aus, weil es regnet. Stellt Euch vor, es gibt nur ein Klo für fast 700 Schüler und Lehrer.

© Sonja Heilmann
© Sonja Heilmann

Was für uns fremd klingt, ist für Schulkinder in Mosambik normal. Das Land liegt in Südostafrika und ist eines der ärmsten der Welt. Die Kinder hier gehen oft barfuß zur Schule. Im Unterricht sitzen sie im Freien auf dem Boden oder auf Steinbrocken, weil es nicht genügend Klassenräume, Tische und Stühle gibt. Alle Kinder in Mosambik sollen eigentlich sieben Jahre lang eine Schule besuchen. Das hat die Regierung angeordnet. Denn nur etwa die Hälfte der Menschen in Mosambik kann lesen und schreiben. Das soll anders werden. Doch gerade auf dem Land schicken viele Familien ihre Kinder gar nicht zur Schule. In dem kleinen Ort Ponta d’Ouro zum Beispiel geht etwa jedes fünfte Kind nicht zur Schule, schätzt Micas Pechisso. Er ist Lehrer an der Grundschule des Ortes und sagt: „Viele Kinder müssen stattdessen Geld verdienen, um die Familien zu unterstützen.“ Die Kinder waschen Autos, bauen für Touristen am Strand Sonnenschirme auf, entladen Boote oder tragen Tüten – alles für ein paar Cent.
„Es ist aber wichtig, zur Schule zu gehen, um später Arbeit zu finden“, sagt der 16-jährige Angel. Der Sechstklässler ist einer von knapp 700 Schülern in Ponta d’Ouro. Angel besucht noch die Grundschule, weil ihn seine Eltern erst später eingeschult haben. Auch das kommt oft vor.
Mit bis zu 50 anderen Kindern sitzt Angel hier in einer Klasse, doch für alle 700 Schüler gibt es nur drei Klassenräume. Deshalb kommen die Schüler in zwei Etappen: Die höheren Klassen haben von 7 bis 12 Uhr Unterricht, die unteren von 13 bis 17 Uhr. Trotzdem reichen drei Klassenzimmer nicht aus. „Bücher gibt es genug“, sagt Angel, „aber keine Räume.“

© Nikolas Postel
© Nikolas Postel

Die Klassenzimmer sind in einem weiß und rot gestrichenen Gebäude untergebracht. Daneben stehen noch ein paar kleine Bambushütten, in denen einige Lehrer wohnen. Dahinter liegt das Klo, das von über 700 Menschen genutzt wird – ein Wunder, dass es nicht schon von Weitem stinkt! Ein paar Hühner rennen umher. Im Lehrerzimmer, das ebenfalls in einer kleinen Bambushütte beherbergt ist, steht eine alte Schreibmaschine. Computer gibt es nicht. Sechs morsche Tische und drei Bänke, dazu ein paar Regale, die unter der Last vieler Ordner zusammengebrochen sind und nur notdürftig repariert wurden.
Oft findet der Unterricht unter zwei großen Laubbäumen auf dem Pausenhof statt. Der erinnert an einen riesigen Sandkasten, auf dem zwei mit Brettern zusammengenagelte Fußballtore stehen. Die 14-jährige Maria hätte lieber immer im Klassenraum Unterricht: „Es ist draußen zu kalt und zu laut.“ Wenn zum Beispiel ein Auto über die angrenzende Sandstraße holpert, sind die Schüler schnell abgelenkt.
Manchmal regnet es auch, so wie heute. Es ist einer der wenigen Tage im Jahr, an dem das Thermometer weniger als 20 Grad anzeigt. Die meisten Kinder haben ihre dicken Jacken aus dem Schrank gekramt, einige tragen sogar Wollmützen. Im Mathe-Unterricht unterm Baum berechnet eine vierte Klasse Winkel. Immer wieder finden Regentropfen ihren Weg durch das Laub auf die schon feuchten Hefte der Schüler. Wer ein Regencape hat, zieht es sich über den Kopf. Wenn die Schauer stärker werden, versammeln sich alle um den mächtigen Stamm des Baumes. Dort wird auch die Tafel angelehnt, damit das Aufgeschriebene nicht verwischt. An Tagen, an denen der Regen gar nicht aufhört, fällt der Unterricht ganz aus.

© Nikolas Postel
© Nikolas Postel

Die Schüler, die sich auf anstehende Klassenarbeiten vorbereiten müssen, werden bevorzugt und dürfen in den Gebäuden lernen. Aus einem Klassenraum dringen schiefe Klänge, eine Klasse hat Musikunterricht. In den beiden anderen Räumen lernen gerade eine fünfte und eine siebte Klasse mosambikanische Geschichte und afrikanische Geografie. Die meisten Kinder in Ponta d’Ouro lieben ihr Land. Viele sagen, sie würden Mosambik höchstens für eine Reise verlassen. Angel will sogar einmal Innenminister des Landes werden. Nur die 13‑jährige Liliana möchte gerne später in Portugal leben: „Ich möchte da in einer Bank arbeiten.“ Dafür würde sie auch ihre Familie zurücklassen und allein nach Portugal ziehen. (Mosambik war jahrhundertelang portugiesische Kolonie, stand also unter Verwaltung Portugals. Seit gut 30 Jahren ist das Land unabhängig, doch Portugiesisch ist noch immer Amtssprache.)
Wer in einer Bank arbeiten will, muss nach der Grundschule in eine weiterführende Schule gehen. Der Besuch kostet im Monat 200 Meticais, umgerechnet etwa 5,60 Euro. Für die meisten Familien ist das zu teuer. Außerdem sind diese Schulen oft sehr weit weg. Angel, Liliana und die anderen Kinder aus Ponta d’Ouro müssten zum Beispiel 70 Kilometer fahren. Ob und wie sie das hinbekommen, wenn sie die Grundschule abgeschlossen haben, wissen sie nicht.
Aber davon träumen können sie ja trotzdem unter den Bäumen auf dem Pausenhof: Liliana von der Arbeit in der portugiesischen Bank und Angel von einem spannenden Leben als Innenminister.