© Jörg Baumann
Beim Kinderfilmfest „Lucas“ in Frankfurt am Main sitzen fünf Kinder in der Jury. Am vergangenen Wochenende haben sie den besten Kinderfilm des Jahres ausgewählt
Von Katrin Hörnlein
Im Kinosaal ist es finster. Nur wenig Licht fällt von der Leinwand auf die Gesichter der Zuschauer. Die lümmeln in gepolsterten Sesseln und schauen gebannt nach vorn. Plötzlich leuchtet etwas hell auf. In einer Reihe in der Mitte des Kinosaals blinkt kurz ein weißblaues Licht. Und da! Noch eins! Ein Junge blickt sich nach der Ursache dieser Störungen um. Da blinkt es erneut. Direkt hinter seinem Sessel! Das Licht blendet ihn. „Hey! Was soll das?“, zischt er. „Tschuldigung, war keine Absicht. Aber ich muss Licht machen, damit ich sehe, was ich schreibe“, sagt sein Hintermann und drückt auf den Knopf einer winzig kleinen Taschenlampe. In deren Lichtschein schreibt er schnell etwas auf ein Blatt Papier, das in einem Klemmbrett steckt.Der Junge mit der Lampe heißt Tom. Er ist zehn Jahre alt – und mit seiner Taschenlampe ist er nicht allein im Kino. Neben ihm sitzen vier andere Kinder, die ebenfalls immer wieder Lämpchen aufblinken lassen. Immer dann, wenn sie eifrig Notizen machen. Tom, Nicolas, Julie, Celine und Svenja sind nämlich nicht zum Vergnügen im Kino. Die fünf Kinder gehören zur Jury des Kinderfilmfestivals Lucas.
Dieses Festival gibt es seit mehr als 30 Jahren. Knapp eine Woche lang werden jeden Herbst in Frankfurt am Main Kinderfilme aus der ganzen Welt gezeigt. Viele sind zum ersten Mal in Deutschland zu sehen und wurden noch nicht übersetzt. Die Schauspieler sprechen Schwedisch, Englisch, Norwegisch, Niederländisch oder Französisch – je nachdem, woher ein Film kommt. Hinten im Kino sitzt deshalb ein Übersetzer oder eine Übersetzerin mit einem Mikrofon, die den Kindern alle Gespräche auf Deutsch wiederholen. Im Publikum findet man beim Lucas-Festival fast nur Kinder. Wenn ein Film zu Ende ist, klatschen alle laut Beifall, wie im Theater oder im Konzert. Manchmal ist auch eine Filmemacherin oder ein Schauspieler zu Besuch.
Bei einem Filmfest wie dem Lucas geht es natürlich auch um Preise. 10 Spielfilme und 15 Kurzfilme sind in diesem Jahr im Wettbewerb. Sie werden von der Jury bewertet, und am Ende gibt es zwei Sieger – den besten Kurzfilm und den besten Spielfilm. Vorher ausgewählt hat alle Filme die Leiterin des Festivals, Petra Kappler. Sie ist ein Jahr lang umhergereist und hat gesucht. „Die Filme sollen zeigen, was es alles in der Welt gibt und wie unterschiedlich wir leben“, sagt sie. „Wie gehen die Menschen in China mit Haustieren um? Warum ist es in Johannesburg etwas Besonderes, zur Schule gehen zu dürfen? Wieso verliebt sich eine Mutter plötzlich in eine Frau?“
All diese Filme schauen sich die fünf Jurykinder an. Sie erleben also eine Woche lang Dauerkino. „Toll ist, dass man schulfrei hat“, sagt Celine. Doch zugleich ist ihr Einsatz harte Arbeit. „Am ersten Tag bin ich schon auf dem Weg nach Hause fast eingeschlafen“, sagt Svenja. Morgens um neun Uhr startet der erste Film, dann wird geguckt, geguckt, geguckt. An einem Tag sehen die Kinder zum Beispiel zwei Spielfilme vor der Mittagspause, nach dem Essen gibt es dann noch vier Kurzfilme. Damit sich Julie, Celine, Svenja, Tom und Nicolas später noch daran erinnern, was ihnen an einem Film besonders gut und was ihnen gar nicht gefallen hat, schreiben sie im Kinosaal mit. Denn zu jedem Film müssen sie sich ja eine Meinung bilden. „Es ist ganz anders, als wenn man sonst ins Kino geht“, sagt Tom. „Man muss sich die ganze Zeit konzentrieren und auf jede Kleinigkeit achten.“ Auf Nicolas Zetteln steht zum Beispiel, wie ihm die Musik gefallen hat, ob die Schauspieler und die Kostüme gut waren und ob ihn die Handlung überzeugt hat. Julie malt für jeden Film eine Liste. Auf die eine Seite schreibt sie, was sie mochte. Auf die andere, was sie blöd fand. Jedes der Jurykinder bemerkt andere Dinge an einem Film.
Filmprofis waren die fünf vor dem Festival nicht. Nicolas ist elf Jahre alt, spielt Klavier und Tennis, außerdem rudert er. Tom ist zehn, macht Leichtathletik und liebt Computerspiele. Die elfjährige Celine spielt Fußball, Tennis und Tischtennis. Julie, elf Jahre, fährt gern Fahrrad und schwimmt. Und die zwölfjährige Svenja liest gern Bücher und spielt Saxofon. Sie wurden aus rund 1000 Kindern ausgewählt. Bewerben konnten sich 9- bis 13-Jährige mit einer selbst geschriebenen Filmkritik.
Immer nachmittags setzt sich die gesamte Jury zusammen und bespricht die Filme des Tages. Neben den fünf Kindern gehören auch noch fünf Erwachsene zur Jury. Sie sind Fachleute, die zum Beispiel selbst Filme machen, fürs Fernsehen arbeiten oder Drehbücher schreiben. Wenn die Jury zusammensitzt, darf jeder seine Meinung sagen. „Die Filme sind ja für Kinder. Deshalb zählt ihre Meinung in der Jury genauso viel wie die der Erwachsenen“, sagte Festivalchefin Petra Kappler.
Allerdings sind sich längst nicht immer alle einig. „Es ist ganz schön anstrengend, wenn man mit den Erwachsenen diskutiert“, sagt Nicolas. Einen Film über eine norwegische Kinderblaskapelle zum Beispiel finden alle Kinder richtig toll. „Ein super Film!“, sagt Celine, „der war spannend und lustig, und die Kinder waren echt mutig.“ Die Erwachsenen bewerten den Film dagegen nur mit „ganz okay“. Ein anderer Film erzählt von einem behinderten Jungen in Iran. „Die Erwachsenen fanden den alle total gut. Die haben im Kino geheult“, sagt Svenja. „Wir Kinder saßen nur mit versteinerten Mienen daneben. Uns hat er nicht gefallen.“
Doch zum Ende des Festivals müssen sich Kinder und Erwachsene einigen, wer gewinnt. Fünfeinhalb Stunden dikutieren sie über alle Filme, nennen Stärken und Schwächen. „Die Erwachsenen haben uns Kindern den Vortritt gelassen“, sagt Julie. „Wir durften immer zuerst unsere Meinung sagen.“ Die Jury kürte schließlich den spanischen Fußball-Film Carlitos großer Traum zum Sieger. »Die Schauspieler haben ihre Rollen gut gespielt, die Handlung war lustig, fesselnd und spannend«, erklärt Julie die Wahl. Bester Kurzfilm wurde Die geschwätzige Maus.
Jetzt freut sich Julie darauf, wieder entspannt Filme anzusehen, ohne Notizen, ohne Taschenlampen und mit Naschereien. »Das war auch ganz anders als im normalen Kino«, sagt sie. »Es gab kein Popcorn!«