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Wer sind die Taliban?

 

© Ulrich Ladurner
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In Afghanistan sollen Soldaten aus Deutschland und anderen Ländern die „Taliban“ am Kämpfen hindern. Das Wort bedeutet ursprünglich nicht „Krieger“ oder „Terrorist“, sondern „Schüler“
Von Ulrich Ladurner

In Pakistan gibt es einen Ort, der heißt Akora Khatak. Er ist mit seinen paar Zehntausend Einwohnern nicht besonders groß, doch er ist sehr laut, sehr staubig, und im Sommer wird es dort brütend heiß. Die Schule des Ortes hat ungefähr 7000 Schüler. Es ist also eine große Schule, und keine gewöhnliche, sondern eine Religionsschule, eine sogenannte Madrassa. Sie steht auf einem weitläufigen Gelände, direkt neben einer viel befahrenen Straße, die zur Grenze des Nachbarlandes Afghanistan führt.

©  Sonja Heilmann
© Sonja Heilmann

Wer auf das Schulgelände spaziert und sich nicht auskennt, verirrt sich mitunter. Denn die Gebäude sind ineinander verschachtelt. Ein bisschen sehen sie aus wie unordentlich zusammengesteckte Legosteine, nur dass sie nicht bunt sind, sondern grau. Das liegt daran, dass diese Schule schon sehr alt ist und viel Zeit hatte zu wachsen. Dabei ist sie eben ein wenig wild geraten.  Es ist gut, dass die Schule so viel Platz bietet, denn in Pakistan sind mehr als ein Drittel aller Menschen jünger als 15 Jahre. Insgesamt also sehr viele: Pakistan hat 170 Millionen Einwohner, mehr als doppelt so viele wie Deutschland. Bei uns ist nur ein Siebtel der Bevölkerung so jung.
Allen diesen Kindern und Jugendlichen sollte Lesen, Schreiben, Rechnen und vieles andere beigebracht werden, damit sie gut durchs Leben kommen. Dafür braucht man viele Schulen. Die Regierung in Pakistan aber baut nur wenige Schulen. Sie sagt, sie hätte nicht genügend Geld. Das stimmt aber nicht ganz. Die Regierung hat Geld, aber sie gibt es lieber für andere Sachen aus, zum Beispiel für Waffen: Pakistan hat eine der größten Armeen der Welt.
Da sich die Regierung um Bildung kaum kümmert, tun es andere: die sogenannten Mullahs. So nennt man muslimische Geistliche. Genauso wie früher bei uns die christlichen Geistlichen haben auch die muslimischen ein großes Interesse daran, die Ausbildung von Kindern in die Hand zu bekommen. Denn in jungen Jahren werden bei Menschen nicht nur die Grundlagen des Wissens, sondern auch des Glaubens gelegt. Und Geistliche aller Religionen wollen sicherstellen, dass die Kinder das ihrer Meinung nach Richtige glauben.
Die Mullahs leiten die Religionsschulen. Ein Kind, das so eine Schule besucht, nennt man Talib – was nichts anderes bedeutet als Schüler. Die Erziehung, die Jungen und an manchen Schulen auch Mädchen bekommen, ist meist sehr einfach. Sie lernen lesen und schreiben, vor allem aber lernen sie den Koran – das heilige Buch der Muslime – auswendig. Das Besondere ist: Diese Ausbildung kostet nichts. Deswegen ist der Zulauf groß, denn die meisten Menschen in Pakistan sind sehr arm. Eine gute Ausbildung wird oft nur von privaten Schulen angeboten, die aber sind teuer. Für viele Eltern ist eine Madrassa daher der einzige Weg, ihren Kindern überhaupt Bildung zu ermöglichen.
Die Madrassa von Akora Khatak wird von einem Mullah namens Sami ul-Haq geleitet. Viele Kinder, die hier zur Schule gehen, kommen aus dem Nachbarland Afghanistan. Es sind Flüchtlinge, sehr viele auch Waisenkinder. In Afghanistan herrscht seit 30 Jahren Krieg, und viele Afghanen sind über die Grenze nach Pakistan geflüchtet. Zeitweise lebten mehr als drei Millionen Afghanen als Flüchtlinge in Pakistan. Mullahs wie Sami ul-Haq öffneten diesen unglücklichen Kindern die Tore ihrer Madrassen. Sie strömten herbei, denn hier konnten sie nicht nur lernen, sondern sie bekamen auch Essen und ein Dach über dem Kopf. Was ihnen die Mullahs beibrachten, war mitunter sehr problematisch. Man lehrte sie, dass alles Wissenswerte im Koran stehe, alle anderen Bücher seien im Grunde überflüssig. Die Kinder lernten in Akora Khatak auch, dass Gott angeblich nicht will, dass Menschen Musik hören oder Musik machen. Ein Punkt aber war der wichtigste: Die Menschheit teile sich in Gläubige und Ungläubige ein. Und die Ungläubigen hätten, so lernten diese Kinder, Afghanistan besetzt. Deswegen sei es die heilige Pflicht eines jeden gläubigen Muslims, Afghanistan zu befreien.
Viele Schüler aus der Schule in Akora Khatak und aus anderen Madrassen zogen Anfang der neunziger Jahre über die Grenze nach Afghanistan in den Krieg. Die »Armee«, die sie bildeten, nannte man die Taliban. Innerhalb weniger Jahre »befreite« sie Afghanistan, das damals von der Sowjetunion besetzt war, und übernahm die Herrschaft im Land. Es war eine grausame Herrschaft. Zum Beispiel ließen die Taliban Frauen zu Tode steinigen, weil sie angeblich Verbrechen begangen hatten; sie zwangen die Männer, ihren Bart auf eine vorgeschriebene Länge wachsen zu lassen; sie sprengten alte, riesige Buddhastatuen in die Luft, weil die Darstellung Buddhas ihrer Meinung nach eine Beleidigung Gottes ist. Alles das rechtfertigten sie mit ihrem Glauben an Gott. Kurzum: Sie begingen und begehen viele Verbrechen im Namen ihrer Religion. Doch eigentlich heißt Talib nichts anderes als: Schüler. Und das ist – im Prinzip – nichts Gefährliches.