Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Spiel mit mir!

 

© Michael Latz/ ddp

In Nürnberg findet gerade die größte Spielwarenmesse der Welt statt. Dort werden tolle Neuheiten gezeigt. Wichtiger für Euch sind aber freie Zeit und Fantasie

Von Susanne Gaschke

Eichhörnchen springen wie die Irren von Tanne zu Tanne und schwingen dabei heftig an den Enden der biegsamen Zweige auf und ab. Tintenfische schubsen ein ums andere Mal leere Plastikflaschen in eine Gegenströmung, so als würden sie einen Ball an eine Hauswand kicken. Delphine ziehen unvorsichtige Seevögel an den Füßen unter Wasser und lassen sie wieder an die Oberfläche ploppen. Bonobo-Affen legen sich Bananenblätter über die Augen und tasten sich dann Schritt für Schritt vorwärts. All diese Tiere tun unterschiedliche Dinge und doch das Gleiche: Sie spielen.
Zu spielen heißt, etwas auf den ersten Blick Sinnloses zu tun, das einfach nur Spaß macht. Wer spielt, legt keinen Wintervorrat an, baut kein Nest, kümmert sich nicht um den Nachwuchs, verdient kein Geld. Verhaltensforscher glauben, dass das Spielen trotzdem keine Zeitverschwendung ist, sondern sehr wichtig – für Tiere und für Menschen. Denn im Spiel kann man meist gefahrlos seine Kräfte messen, man lernt, mit anderen zusammenzuarbeiten, man muss sich dauernd etwas Neues ausdenken und mit unerwarteten Ereignissen klarkommen. Durch all das wird das Gehirn während des Spielens trainiert.
Lebewesen mit großen Gehirnen – wie Affen und natürlich Menschen – verbringen besonders viel Zeit mit dem Spielen. Und es sind vor allem Affenjungen und Menschenkinder, die herumtoben, einander jagen, aus Klötzen und Stöcken etwas bauen. Das liegt daran, dass man zum Spielen freie Zeit braucht. Während die Älteren Futter beschaffen (Affen) oder ins Büro gehen (Menschen), fehlt ihnen diese Zeit. Kinder hingegen sollten sich eigentlich noch nicht um das Wohlergehen ihrer Familie kümmern müssen. Wenn alles gut läuft, sollte ihnen genug Zeit zum Spielen bleiben. Leider ist das nicht überall so. Kinder, die in einem indischen Slum oder einem afrikanischen Kriegsgebiet aufwachsen, sind vollauf damit beschäftigt, für ihr Überleben zu arbeiten – oder sich vor feindlichen Soldaten zu verstecken.
Aber auch bei uns ist es mit der freien Zeit zum Spielen so eine Sache. Erstens haben viele Kinder heute ziemlich lange Schule. Zweitens gehen viele nach der Schule zum Reiten, zum Fußball, zum Ballett oder zur Musikstunde. Das sind zwar alles Unternehmungen, die Spaß machen – aber die Zeit, in der man »einfach nur so« draußen spielt, Bauklötze stapelt oder sich mit Freunden ver­ab­redet, wird dadurch kürzer. Drittens versuchen viele Erwachsene, Kindern in ihrer knappen Freizeit »Lernspiele« unterzujubeln, zum Beispiel Computerspiele, mit denen man angeblich besser in Mathe oder Englisch wird. Das kann lustig sein, aber selbst ausdenken darf man sich dabei nichts. Viertens hören Kinder heute sowieso eher auf zu spielen als früher. Kaum jemand, der älter ist als zwölf Jahre, würde sich noch gern dabei erwischen lassen, wie er für seine Schlümpfe (oder Puppen oder Schleich-Tiere) im Garten kleine Hütten aus Moos und Hölzchen baut (selbst wenn es Spaß macht).
Doch es wäre nicht gut, wenn Kindern irgendwann gar keine Zeit mehr zum Spielen bliebe oder wenn es selbst für Kleinere aus der Mode käme. Wie scheußlich und langweilig das Leben dann wäre, hat der Autor Michael Ende in seinem berühmten Kinderbuch Momo beschrieben: Im Reich der bösartigen »grauen Herren« hat kein Erwachsener mehr Zeit, sich um Kinder zu kümmern, weil jeder nur noch schuftet, was das Zeug hält. Und die Kinder, die in speziellen Kinderhäusern eingesperrt sind, dürfen auch nur solche Dinge »spielen«, die sie später einmal zu gehorsamen, fleißigen Arbeitern machen.
Eigentlich wollen aber auch Erwachsene ein solch düsteres, freudloses Leben nicht führen. Selbst wenn sie normalerweise nicht so viel spielen wie Kinder, haben sie doch andere Wege gefunden, das Spielerische in ihre Erwachsenenwelt hinüberzuretten. Wissenschaftler sagen dazu: Aus Spiel wird Kultur. Das heißt, aus dem Springen und Toben der Kinder wird Tanz. Aus dem Bauen mit Klötzen wird Architektur, wird Bildhauerei. Aus Rollenspielen wie »Vater, Mutter, Kind« oder »Aliens gegen Mutanten« werden Theaterstücke, Filme, Bücher. Kultur – also Malerei, Musik, Literatur, Theater, Film und vieles mehr – kann nur entstehen, wenn Menschen im Alter von zwei, drei Jahren gelernt haben, sich etwas auszudenken. Wenn sie gelernt haben, so zu tun als ob. Als ob der gelbe Klotz, mit dem sie ihren Teddy füttern, eine Banane ist. Als ob man aus einer Tasse trinken kann, in der gar nichts drin ist. So zu tun als ob, das bedeutet: Fantasie haben.

Dafür sind weder so viele verschiedene Spielzeuge nötig, wie sie gerade wieder auf der weltgrößten Messe für Spielwaren  in Nürnberg gezeigt werden, noch müssen sie besonders kompliziert sein. In ihrer Geschichte Die Prinzessin, die nicht spielen wollte erzählt Astrid Lindgren, wie zu viele und zu ausgefallene Spielzeuge das Spiel sogar verderben können: Da sitzt die Prinzessin in ihrem übervollen Kinderzimmer und hat zu gar nichts mehr Lust, weil sie sich zwischen den vielen, vielen Dingen nicht entscheiden kann. Fröhlich wird sie erst wieder, als ein Mädchen aus dem Dorf ihr eine alte Lumpenpuppe mitbringt. Die sieht nach gar nichts aus. Und kann auch nichts. Man muss sich alles vorstellen, was sie erleben soll. So tun als ob eben. Fantasie haben – und sehr viel Spaß!