Bei den Passionsspielen in Oberammergau in Bayern führt ein ganzes Dorf biblische Geschichten auf. Die Kinder opfern dafür sogar ihren Sommerurlaub
Das Theater ist für Elias und Zita in diesem Sommer wie ein zweites Zuhause. Dort treffen sie ihre Freunde, ihre Familie, dort schlüpfen sie in ihre Kostüme: raus aus T-Shirt und Kleid, stattdessen Kutte an und Tuch über die Haare. Elias braucht noch Dreck im Gesicht, braune Theaterschminke. Fertig sind die Geschwister für ihren Auftritt bei den Passionsspielen – einem riesigen Theaterspektakel, das alle zehn Jahre in Oberammergau in Bayern veranstaltet wird.
Vor fast vierhundert Jahren, 1633, schlossen die Oberammergauer eine Art Handel mit Gott. Die Menschen beteten darum, dass ihr Ort von der schlimmen Pest verschont bliebe. Wenn Gott sie beschützte, wollten sie fortan alle zehn Jahre die Passionsgeschichte spielen: das Leiden, Sterben und die Auferstehung Christi, wie es in der Bibel erzählt wird. Oberammergau wurde von der Pest verschont, und so stehen die Dorfbewohner bis heute alle zehn Jahre auf der Bühne des Passionsspielhauses. 2400 Menschen wirken in diesem Jahr mit, darunter 650 Kinder.
Gespielt wird schon seit Mai, die letzte Vorstellung ist am 3. Oktober. An fünf Tagen in der Woche gibt es Aufführungen, und die sind lang: Der erste Teil beginnt um 14.30 Uhr und endet um 17.30 Uhr. Nach einer Pause geht es von 20 Uhr bis 23 Uhr mit dem zweiten Teil weiter. Vom Kind bis zum Hauptdarsteller hat jeder im Dorf feste Rollen, so auch der zehnjährige Elias und seine Schwester Zita, 13 Jahre. Sie stehen zum Beispiel als Teil des Volkes auf der Bühne, wenn Jesus auf einem Esel vorbeireitet. Elias ist außerdem für die Schafe zuständig, die in zwei Szenen auf der Bühne sind. Zita hat eine weitere Rolle in einem »lebenden Bild« – die Schauspieler stellen sich dabei so auf, als seien sie ein Gemälde, und Zita muss drei Minuten lang bewegungslos knien.
Den ganzen Sommer über fast jeden Tag auf der Bühne zu stehen, das ist anstrengend. Als ihre Mutter fragte, ob Zita und Elias wenigstens ein paar Tage ins Zeltlager wollten, lehnten beide trotzdem entrüstet ab. »Das ist zwar ein richtiger Verzicht«, sagt Zita. »Aber wenn man wegfährt, muss einen jemand vertreten oder es bleibt eine Lücke.« Das Zeltlager gibt es nächstes Jahr auch noch, die Passionsspiele erst wieder im Jahr 2020.
Solange das Dorf Theater spielt, haben die Tage der Kinder einen ganz anderen Rhythmus: Wenn Elias mittags aus der Schule kommt, isst er schnell etwas, radelt zum Theater und zieht sich um. Zuerst muss er zusammen mit anderen Kindern und Erwachsenen als Volk auf die Bühne. Danach flitzt Elias zur Schafweide und lockt Mary, Lissy und die anderen acht Schafe zum Passionsspielhaus. Er scheucht sie, wenn ihr Einsatz naht, die Stufen hoch und führt sie auf die Bühne. Um 16 Uhr sind Elias’ Auftritte vorbei. Dann heißt es Schafe zurückbringen, nach Hause fahren und Hausaufgaben machen.
Nach dem Abendessen gehen die Geschwister direkt ins Bett – vorschlafen. Denn abends müssen sie noch einmal auf die Bühne, dann ohne Schafe. Um 21.25 Uhr weckt die Mutter Zita und schickt sie los. Um 22.00 Uhr muss Elias wieder aufstehen und gemeinsam mit der Mutter zum Theater fahren. Auf dem Rückweg nimmt die Mutter Zita um 22:30 Uhr mit. Der Vater, der auch erst spät seinen Einsatz hat, fährt nach dem Ende der Aufführung gemeinsam mit Elias heim.
Zum Glück beginnen auch in Bayern jetzt die Ferien, da können die Geschwister morgens ausschlafen. Denn das nächtliche Aufstehen ist ganz schön beschwerlich. »Mit weniger Schlaf schreibt man schon schlechtere Noten«, sagt Zita. »Aber solang ich nicht durchflieg, nehm ich das locker.« Einmal war Elias so müde, dass die Mutter ihn nicht geweckt und er seinen Auftritt verpasst hat. Der Zehnjährige fand das gar nicht richtig. »Das ist schließlich jetzt mein Job«, sagt er.
Die Kinder in Oberammergau nehmen die Passionsspiele sehr ernst. Zita ermahnt zum Beispiel ihre Freundin Kathrin: »Du musst dein Haargummi rausmachen. Das hatten sie damals noch nicht.« Und Zita bemerkt ein Kind, dessen weißes T-Shirt unter dem Kostüm hervorlugt. Geht nicht! Alles soll so sein wie vor 2000 Jahren. Deshalb tragen alle Mitspieler – auch die Männer – lange Haare. Die haben sich die Oberammergauer seit knapp eineinhalb Jahren wachsen lassen. Der »Haar- und Bart-Erlass« des Dorfes verbietet es den Darstellern, ihre Haare und Bärte im Jahr vor den Aufführungen zu schneiden.
Ganz genau festgelegt ist auch, wer überhaupt mitspielen darf: Man muss in Oberammergau geboren sein oder seit mindestens 20 Jahren hier leben. Die Mutter von Elias und Zita wohnt erst seit 16 Jahren im Dorf. Sie darf nicht mitmachen – nicht mal als Garderobenfrau. Die Geschwister dagegen waren schon vor zehn Jahren dabei. Zita war damals drei Jahre alt, Elias noch ein Baby. Eine Frau trug ihn auf der Bühne umher. »Das gehört dazu als O-gauer«, sagt Elias stolz: »Der Uropa war schon dabei, der Opa, die Oma, der Papa und jetzt wir.«
Wegen der anstrengenden Auftritte im Sommer gibt es für die Schulen im Dorf eine besondere Regelung: Die Herbstferien sind eine Woche länger, damit alle Familien doch noch in den Urlaub fahren können. Zita und Elias werden davon allerdings nichts haben: Nach dem Sommer gehen beide nach Garmisch ins Gymnasium, und da gilt die Oberammergauer Sonderregel nicht.