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Keine Manieren!

 

Martin Burgdorff für DIE ZEIT (www.igorunddieanderen.de/)

In der Steinzeit gab es noch keine Regeln für »gutes« Benehmen. Leider! Es macht das Leben nämlich sehr angenehm, wenn alle ein wenig Rücksicht nehmen

Von Anna von Münchhausen

Neulich waren sie beim Angeln, Max und sein Großvater, im Ruderboot draußen auf dem See. Max liebt es, mit den Blinkern zu hantieren oder den Käscher zu halten. Manchmal findet er es aber auch einfach schön, nur so dazusitzen, das Wasser vom Ruderblatt tropfen zu lassen und zu warten, ob sich irgendwo unter der Wasseroberfläche ein Schatten zeigt. Oder ob plötzlich die Rute stramm zieht und etwas angebissen hat… In einem solchen Moment hat Max neulich sehr laut niesen müssen.

»Und?«, fragt sein Großvater. »Was – und?«, fragt Max zurück. »Ach so«, schiebt er hinterher, als ihm klar wird, worauf der alte Mann hinauswill: »’tschuldigung.« Pause. Dann seufzt Max: »Muss man sich denn sogar draußen gut benehmen?« – »Manieren haben mit draußen oder drinnen nichts zu tun«, entgegnet der Großvater. »So?«, fragt Max. »Womit denn dann?«

Der Alte wundert sich ein bisschen: Hat das dem Jungen niemand erklärt? Es scheint so. Und weil sich gerade die Angelschnur verheddert hat, bietet sich die Gelegenheit für einen kleinen Vortrag von Opa zu Enkel: Manieren sind vor allem dazu da, damit der andere ganz deutlich merkt, dass man nichts Böses gegen ihn im Schilde führt. Dass man daran interessiert ist, gut miteinander auszukommen.

Das war nicht immer selbstverständlich. Vor allem nicht in der Steinzeit. Wenn sich da einer näherte, den man als Feind ansah oder den man nicht einschätzen konnte, dann schlug man ihm die Zähne ein oder zog ihm eins mit dem Knüppel über den Kopf. Das war ein ziemlich anstrengendes Leben, schließlich konnte so etwas jedem selbst passieren. So kam es, dass die Menschen sich irgendwann überlegten, wie sich das Zusammenleben nach Regeln organisieren lässt – Regeln, die dabei helfen, halbwegs friedlich miteinander umzugehen. Entscheidend ist dabei, sich so zu benehmen, dass der andere erkennt: Ich kenne diese Regeln, ich erkenne sie an, ich nehme Rücksicht auf dich und habe Respekt vor dir.

»Aber warum muss das so kompliziert sein?«, will Max wissen. Zu Hause beim Essen geht es ja laufend so: Sitz gerade! Keine Gräben für die Soße durch den Kartoffelbrei ziehen! Nimm die Serviette! Alles nur, um zu zeigen, dass er friedlich gesinnt ist?

Max hat recht: Tischsitten sind noch auf andere Art entstanden. Gerade beim Essen reagieren manche Menschen empfindlich. Sie mögen es nicht, wenn nebenan einer krumm über dem Teller hängt, schmatzt, rülpst oder in den Zähnen bohrt. Was wir heute unter Essmanieren verstehen, erklärt Max’ Großvater, sind vor allem Regeln, die noch aus der Vergangenheit herrühren, als die Ständegesellschaft im Mittelalter und später die Hofgesellschaft der Fürsten bestimmte, was galt. Am Hof hatte man sich »höflich« zu benehmen. Beim festlichen Mahl zeigte sich, wer beim König besonders gut angesehen war – und deshalb wollte jeder noch feiner sein als der Nachbar an der Tafel. Das Weinglas zierlich halten und dabei einen Trinkspruch ausbringen, die Schnupftabakdose elegant öffnen und die Damen amüsant unterhalten. An den guten Manieren ließ sich ablesen, welche Stellung man einnahm. Das Wort Manieren kommt übrigens aus dem Französischen, da bedeutet es einfach nur »Art und Weise, Gewohnheit, Benehmen«. So wird es ja auch bei uns benutzt: Gutes Benehmen soll zur Gewohnheit werden.

Dafür hat sich vor langer Zeit ein Mann starkgemacht, der Adolph Freiherr von Knigge hieß. Den Namen hat Max schon einmal gehört. Wer war das? »Der zählte auch zu einer Hofgesellschaft im 18. Jahrhundert«, erzählt der Opa. »Aber er war nicht so ein Katzbuckel wie andere, sondern sehr gelehrt. Außerdem glaubte er, dass jeder Mensch mit Vernunft ausgestattet sei.« Berühmt geworden ist Knigge durch sein Buch
Über den Umgang mit Menschen.
Heute gibt es schrecklich viele Ratgeber, die sich irgendwie auf Knigge beziehen, die aber gar nichts mit ihm zu tun haben: Wie man Austern isst oder Ähnliches steht darin. Da würde der echte Knigge ziemlich ärgerlich werden, wenn er das sähe, so viel ist sicher. »Ihm ging es nämlich eigentlich nur um die Frage, wie Menschen einander respektieren, ohne dabei unterwürfig zu wirken. Oder rumzuschleimen, so würdest du das wohl nennen.«

Das Gute ist, dass Manieren und Tischsitten sich im Lauf der Zeit ändern. Als der Großvater ein kleiner Junge war, durfte er zum Beispiel bei den Mahlzeiten nicht reden, ohne gefragt zu werden. Damals fand man, Kinder sollten zwar zu sehen, aber nicht zu hören sein. »Deshalb haben wir Geschwister uns immer mit den Füßen unter dem Tisch geschubst, aus Langeweile«, sagt der Alte. »Und alles aufessen, hieß es immer, egal, ob man das Gericht mochte oder nicht.«

So gesehen, findet Max, hat er es heute einfacher. Seine Eltern verlangen ja nicht von ihm, dass er sich wie ein dressierter Affe aufführt. Er soll nur zeigen, dass er gelernt hat, Rücksicht auf andere zu nehmen. Also aufstehen, wenn ältere Menschen den Raum betreten, ihnen im Bus einen Platz anbieten. Wenn jemand krank ist, nachfragen, wie man helfen kann. »Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu« ist eine alte Redewendung – und sie gilt überall, egal, ob in der Familie, in der Schule oder wenn man gerade zu Gast oder mit Fremden unterwegs ist. »Das ist sogar ein guter Trick«, sagt der Ältere. »Mit gutem Benehmen und Höflichkeit kannst du Menschen, die dich ärgern oder piesacken wollen, ausbremsen. Die prallen sozusagen an deiner guten Erziehung ab.«

»Benimmst du dich denn eigentlich immer richtig?«, fragt Max und grinst. Darauf kann der Großvater leider gerade nicht antworten, weil es an der Angel wahnsinnig zuckt und es jetzt wirklich drauf ankommt…