Ein Gespräch mit Helmut Schmidt: Über Kindheit vor 90 Jahren – und die Frage, was ein Bundeskanzler können muss
KinderZEIT: Sie wurden am 23. Dezember 1918 geboren, da war gerade ein schrecklicher Krieg, der Erste Weltkrieg, zu Ende gegangen. Und als Sie 20 Jahre alt waren, zettelte Deutschland den Zweiten Weltkrieg an, der Millionen von Menschen in Europa das Leben kostete. Wie war es, in dieser Zeit zwischen den Kriegen aufzuwachsen?
Helmut Schmidt: In meiner eigenen Familie mussten wir keine Not leiden, aber in der Familie meiner Frau, die ich seit der Grundschulzeit kenne, habe ich erlebt, was Armut heißt: Der Vater war Elektriker auf einer Werft gewesen, wollte unbedingt arbeiten, blieb aber sechs Jahre lang arbeitslos. Die sechsköpfige Familie lebte in einer kleinen Zweizimmerwohnung. Das Klo war auf der halben Treppe, der einzige Wasserhahn befand sich in der Küche, die Kinder wurden auf dem Küchentisch geboren.
KinderZEIT: Sprach man bei Ihnen zu Hause über Politik?
Schmidt: Nein. Mein Vater war der altmodischen Meinung, dass Kinder keine Zeitung lesen sollen, dass sie sich für Politik nicht zu interessieren haben. Das gehört sich nicht, dachte er.
KinderZEIT: Angst vor einem neuen Krieg hatten Sie nicht?
Schmidt: Nein, das haben meine Eltern von uns ferngehalten.
KinderZEIT: Was, glauben Sie, ist der größte Unterschied zwischen einer Kindheit vor fast 90 Jahren und heute?
Schmidt: Man sieht den Unterschied sehr deutlich bei den Grundschulen. Auf meiner Schule musste man gerade sitzen, die Hände auf dem Tisch halten, eingezwängt in die Schulbank. Da gab es auch Schläge mit dem Rohrstock oder Ohrfeigen. Später kamen meine Frau und ich dann auf dasselbe Gymnasium. Das war eine fortschrittliche Schule. Viel gelernt haben wir nicht, aber eines auf jeden Fall: selbstständig zu arbeiten. Schon in der sechsten, siebten Klasse musste man da eine Jahresarbeit schreiben, sich ganz allein mit einem Thema auseinandersetzen. Das konnte ich, das hat mir Freude gemacht. Aber insgesamt war ich ziemlich faul in der Schule.
KinderZEIT: Gab es Fächer, die Ihnen schwerfielen?
Schmidt: Eigentlich nicht.
KinderZEIT: Und Lieblingsfächer?
Schmidt: So hätten wir das nicht genannt. Aber, ja: Wir hatten eine Stunde Turnen jeden Tag, das mochte ich sehr. Und den Kunstunterricht, Zeichnen hieß das damals – darin hatten wir einen begnadeten Lehrer, für dessen Unterricht bin ich der Schule heute noch dankbar. In meiner Klasse interessierte sich außer mir noch ein anderer Junge besonders für Geschichte, und als wir älter waren, haben manchmal wir beiden die ganze Stunde lang mit dem Geschichtslehrer diskutiert. Ich habe dabei sehr viel gelernt – ob es für den Rest der Klasse ebenso lehrreich war, weiß ich allerdings nicht!
KinderZEIT: Haben Sie als Junge gern gelesen? Erinnern Sie sich an ein Kinderbuch, das Sie besonders mochten?
Schmidt:Onkel Toms Hütte, die Geschichte eines schwarzen Sklaven in den amerikanischen Südstaaten. Das habe ich mit acht oder neun Jahren gelesen. Ich glaube, das stammte aus dem Bücherschrank meiner Mutter. Ich war eine richtige Leseratte. So mit zehn, elf Jahren entdeckte ich die öffentlichen Bücherhallen in Hamburg, wo man Bücher ausleihen konnte. Großartig! Die Ausleihfrist war drei Wochen, aber ich habe meine Bücher meist schon nach einer Woche zurückgebracht und neue geholt.
KinderZEIT: Heute gibt es viele Jungen, die nicht so gern lesen…
Schmidt: Bei mir war das anders. Beim Abitur hatte ich, glaube ich, schon einen ziemlich guten Überblick zum Beispiel über die russische Romanliteratur. Aber Sie müssen sehen: Das waren andere Zeiten. Es gab weder Radio noch Fernsehen. Wer etwas erleben wollte, musste lesen.
KinderZEIT: Nach dem Krieg studierten Sie Volkswirtschaft und arbeiteten in der Hamburger Behörde für Wirtschaft und Verkehr. Wie kam es, dass Sie dann für ein politisches Amt kandidiert haben?
Schmidt: Eigentlich wollte ich nicht Politiker werden. Ich wollte in die Geschäftsführung der Hamburger Hafen- und Lagerhausgesellschaft. Aber man fand mich zu jung. Da habe ich mich aus Trotz um ein Abgeordnetenmandat für den Bundestag beworben. Das war 1953.
KinderZEIT: Heute sind Politiker bei vielen Wählern ziemlich unbeliebt. War das damals eigentlich auch schon so?
Schmidt: Ich glaube, ganz früher, vor 60 Jahren, am Anfang der Bundesrepublik, war es nicht so. Die meisten Menschen bekamen von Politik kaum etwas mit. Es gab kein Fernsehen, und von der Arbeit eines Bundestagsabgeordneten erfuhr man wenig. Da konnte man also auch nicht sauer sein! Vor 40, 45 Jahren gab es dann in manchen Familien die ersten Schwarz-Weiß-Fernsehgeräte. Da wurden stundenlang die Bundestagsdebatten übertragen. Man konnte wirklich hören, was die Abgeordneten im Parlament sagten, das war erst mal neu und interessant. Heute werden die Bundestagsdebatten nur noch auf Phoenix gebracht, und die anderen Fernsehsender sind voll mit Sabbelshows.
KinderZEIT: Sie selbst sind nun allerdings der beliebteste Politiker Deutschlands. Warum mögen die Menschen Sie, und andere Politiker nicht?
Schmidt: Ach, wenn sie sich ärgern, dann hören die Leute gern auf die Alten mit den weißen Haaren. Die wirken so schön würdig, die Alten, aber sie ärgern ja auch niemanden mehr mit irgendwelchen Entscheidungen. Ich bin ja kein Politiker mehr.
KinderZEIT: Was würden Sie heute einem jungen Menschen raten, der in die Politik gehen möchte?
Schmidt: Ich würde ihm sagen: Du hast wohl einen Vogel! Lern erst mal einen anständigen Beruf, und übe ihn aus, vorher kommt das nicht infrage! Es ist ganz wichtig, dass jemand, der sich für eine Zeit lang in ein Amt wählen lässt, hinterher einen Beruf hat, in den er zurückkehren kann. Bei den Jugendorganisationen der Parteien kann er aber gern schon früher mitmachen – wenn es die noch gibt!
KinderZEIT: Von 1974 bis 1982 waren Sie Bundeskanzler. Ist der Bundeskanzler der mächtigste Mann des Landes?
Schmidt: Der mächtigste? Das kann man nicht sagen: Mächtiger sind die 614 Menschen im Bundestag – die Abgeordneten. Wenn von denen 308 sagen: Dies Gesetz will ich nicht, dann kommt es nicht zustande. Daraus ergibt sich auch etwas Wichtiges, was ein Bundeskanzler können muss: Kompromisse schließen. Das heißt, er muss sich mit anderen einigen, muss in manchen Punkten nachgeben.
KinderZEIT: Was muss man noch gut können als Bundeskanzler?
Schmidt: Man muss zum Beispiel das, was man will, gut erklären können, damit möglichst viele Menschen es verstehen. Man muss gut zuhören können – auch die Sachen, die einem falsch vorkommen, muss man sich anhören! Und dann gibt es Tugenden, die eigentlich jeder Bürger haben sollte, aber ein Politiker ganz besonders: Man darf die Schuld nicht auf andere schieben. Man muss tapfer sein. Man muss wirklich sagen, was man meint – und nicht das, wovon man glaubt, die Leute wollten es gerne hören. Und noch ein paar ganz praktische Punkte: Politiker müssen mindestens zwei fremde Sprachen sprechen, damit sie sich mit den Vertretern anderer Länder verständigen können. Vor allem Englisch, aber Spanisch, Russisch oder Chinesisch sind auch sehr wichtig.
KinderZEIT: Wir sitzen hier in Ihrem Arbeitszimmer. Sie arbeiten sehr viel, obwohl Sie schon 91 Jahre alt sind. Warum tun Sie das?
Schmidt: Wenn ich nicht arbeiten würde, wäre ich tot! Aber es ist natürlich ein Unterschied, ob man vor allem am Schreibtisch arbeitet oder ob man sich körperlich sehr anstrengen muss. Ein Dachdecker kann nicht auf dem Dach herumturnen, bis er 68 Jahre alt ist. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass wir, was ja sehr erfreulich ist, alle immer älter werden. Das heißt schon, dass alle sich ein bisschen länger anstrengen müssen, denn die Renten werden ja von dem Geld bezahlt, das die arbeitenden Menschen verdienen.
KinderZEIT: Und wenn Sie sich doch einmal etwas Muße gönnen: Was tun Sie dann?
Schmidt: Ach, das ist ziemlich traurig. Mein ganzes Leben lang habe ich mich dann ans Klavier gesetzt und gespielt. Aber seit 15 Jahren höre ich so schlecht, dass ich nicht mehr spielen kann. Ich kann überhaupt keine Musik mehr hören. Also lese ich dann meistens. Faulenzen fällt mir schwer. Das konnte ich nur richtig gut in unserem Ferienhäuschen am Brahmsee.
KinderZEIT: Fernsehen mögen Sie nicht besonders. Als Sie Bundeskanzler waren, haben Sie sogar einen fernsehfreien Tag pro Woche vorgeschlagen…
Schmidt: Ich fand, es sei eine gute Idee, wenn Familien an diesem Tag gemeinsam etwas unternehmen, etwas spielen, miteinander reden, statt stumm vor einem Bildschirm zu sitzen. Aber die Journalisten hielten das für einen ganz furchtbaren Vorschlag. Vor allem die Fernsehjournalisten!
KinderZEIT: Sehen Sie selbst heute fern zur Zerstreuung?
Schmidt: Nur wenn ich nicht schlafen kann. Dann schalte ich manchmal den Fernsehapparat an, lasse ihn ohne Ton laufen und rate, was die da wohl reden.
Die Fragen stellten Susanne Gaschke und Katrin Hörnlein, die Fotos sind von Vera Tammen
Nachtrag: Loki Schmidt, die Frau von Helmut Schmidt, ist in der Nacht zum Donnerstag in ihrem Haus in Hamburg gestorben. Sie wurde 91 Jahre alt, das Paar war 68 Jahre verheiratet.