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Bibbernde Ritter

 

Fast wie im Mittelalter: Burg Falkenstein im Bayerischen Wald/ Foto: Bayerischer Wald Ferien

Helden in schimmernden Rüstungen, die tagein, tagaus Abenteuer erleben – so erzählen es alte Sagen. Wie  ungemütlich ein Ritterleben wirklich war, verschweigen sie lieber

Von Christian Staas

Der Wind heult. Schnee wirbelt in die Höhe. Es ist so kalt, dass man nur widerwillig zum Abort-Erker schleicht, der hoch über der Außenmauer ins Nichts ragt. Hier hockt man mit dem nackten Hintern über einem offenen Loch.

Na, dann schnell zurück aufs Sofa – mit einer Tasse Tee und einem Buch.

Sofa? Tee? Buch? Hier gibt es kein Sofa! Polstermöbel sind noch nicht erfunden, zum Sitzen dient ein Klapphocker oder, zu den Mahlzeiten, eine Holzbank mit Kissen und Decken darauf. Die Wände sind feucht. Dann wenigstens einen heißen Tee? Tee kannte man in Europa noch nicht.

Und Bücher? Eine Rarität! Handgeschrieben, unsagbar teuer. Außerdem ist es zum Lesen zu dunkel.

Es ist doch helllichter Tag! Aber alle Fensterläden sind verrammelt. Sonst wird es noch frostiger hier drin. Nur ganz selten gibt es Glasfenster. Meist ist Tierhaut gespannt, aber die hält die Kälte nicht ab. Dann zünde doch eine Kerze an! Bist Du verrückt? Kerzen sind kostbar, reines Bienenwachs.

Wo sind wir hier überhaupt?! Im Mittelalter. Auf einer Burg im tiefsten Winter.

Viele sagen, das Mittelalter (es begann um das Jahr 500 und endete etwa 1500) sei eine finstere Zeit gewesen. Das ist falsch und richtig zugleich. Es ist falsch, weil die Menschen damals keineswegs nur dumm und brutal waren. Sie bauten zum Beispiel beeindruckende Kathedralen, und auf den Burgen entstanden grandiose Geschichten von Ritterabenteuern – die berühmte Artussage etwa. Aber: Hohe Literatur und schöne Kirchen halfen nicht gegen Kälte und Hunger. Viele Menschen lebten in schrecklicher Armut. Und auch auf den Burgen war das Leben meist nicht so herrlich, wie es die Rittersagen verheißen.

»Überall stinkt es nach Schießpulver, und dann die Hunde und ihr Dreck, auch das ist kein lieblicher Duft!« So beschrieb der Ritter Ulrich von Hutten das Burgleben des 15. Jahrhunderts. »Man hört Schafe blöken, Rinder brüllen, Hunde bellen, auf dem Feld schreien die Arbeiter.« Jeder Tag bringe »Sorge und Plage«. Vor lauter Alltagskram, klagte Ulrich von Hutten, hätten die Ritter gar keine Zeit mehr für ihre Hauptbeschäftigung: Abenteuer zu bestehen. Diese »Abenteuer« waren Kriege. Und die waren auch der Grund, warum es überhaupt Burgen gab und Ritter: Die Burg bot Schutz. Für die Menschen, für das Vieh, für wertvollen Besitz.

Im 9. Jahrhundert bauten die Menschen in Europa die ersten Steinfestungen gegen Feinde, die ins Land einfielen. Von der Burg aus herrschten die Fürsten über ihre Untertanen, knöpften ihnen Abgaben ab, hielten Gericht und zettelten Fehden mit anderen Burgherren an – zum Beispiel um ihre Macht zu vergrößern. Die große Zeit der Burgen begann im 12. Jahrhundert. 40000 sollen allein in Frankreich gestanden haben, 19000 in den deutschsprachigen Landen. »Burg« ist das älteste deutsche Wort. Auch der oberste weltliche Fürst, der Kaiser, lebte auf Burgen. Um seine Macht zu behaupten, reiste er ständig umher. Dabei hatte der Kaiser stets ein riesiges Gefolge, das, wo immer es sich einquartierte, alles leer fraß. Der Kaiser war ein gefürchteter Gast.

Gefürchtet waren oft auch die Ritter. »Ritter« hieß zunächst nichts anderes als Reiter oder berittener Kämpfer. Wobei ein Ritter gleich mehrere Pferde benötigte. Zuerst ein Transportpferd. Dann ein Pferd für den Knappen, der bei seinem Herrn zum Ritter ausgebildet wurde und ihn auch in den Kampf begleitete. Schließlich ein Schlachtross. Das war das teuerste. Um sich solch ein starkes, schnelles Tier zu kaufen, hätte ein Bauer sechs Jahre lang schuften müssen. Auch die Ausrüstung war kostspielig: das kunstvoll aus Metallringen geknüpfte, maßgeschneiderte Kettenhemd, die Rüstung mit Helm, Schwert und Lanze. Die Ritterschaft war daher ein Klub wohlhabender Männer, und ihm konnte seit Ende des 12. Jahrhunderts nur angehören, wer einen Ritter zum Vater hatte. Frauen durften erst gar nicht mitmachen. Das »von« im Namen gab Auskunft, von welcher Burg der edle Herr abstammte: »Hinz von Greifenberg« oder »Kunz von Urach« hießen die Ritter, nicht bloß Hinz und Kunz, was weitverbreitete Namen waren.

Diese Ritter-Hinze und -Kunze waren zunächst recht raue Gesellen. Mit der Zeit bildeten sie sich aber immer mehr ein auf ihr Rittertum und gaben sich eigene Regeln. Dazu gehörte es, bei Hofe galant zu den Damen zu sein – »ritterlich« eben, »höflich«. Ein Ritter sollte sich zudem bilden, Sprachen lernen etwa. Eiserne Regel war auch, nicht zu jammern, wenn einem in der Schlacht zum Beispiel die Hand abgehackt wurde. Viele Ritter starben jung. Ein Ritterleben war alles andere als gemütlich.

So wie die mittelalterliche Burg: »Sie ist nicht zur Behaglichkeit, sondern als Festung gebaut«, schrieb Ritter Ulrich von Hutten. Häufig auf Anhöhen und Felsen errichtet, war sie schwer einzunehmen. Die Gräben waren nur mit Zugbrücken zu überwinden. Angreifer waren nicht zimperlich. Schafften sie es nicht, die Mauern oder das Tor zu durchbrechen, schleuderten sie Fässer voller Fäkalien in die Burg oder sogar tote Kühe. Gestank und Krankheiten sollten die Burgbewohner fertigmachen. Spätestens da fanden wohl auch die Menschen des Mittelalters, dass der Krieg kein tolles Abenteuer ist.

Der Winter hatte da bei allem Bibbern und Zittern einen Riesenvorteil: Es herrschte meist Frieden. Und die Menschen hatten viel Zeit. Sie erzählten sich Geschichten oder spielten. Auf die großen Festbankette mussten sie allerdings verzichten. Zu essen gab es im Winter nur Eingelagertes: Salzfleisch. Rauchfleisch. Eingekochtes. Nichts Frisches. Da es außerdem feucht und kalt war, fürchtete jeder, krank zu werden. Man konnte eine Burg nämlich nicht besonders gut beheizen. Die Menschen stellten zunächst offene Glutpfannen auf. Im 12. Jahrhundert wurde dann – endlich! – der Kachelofen erfunden. Jetzt hatten es zumindest Burgherr und -herrin in der Kemenate, dem Schlafgemach, einigermaßen warm, denn oft stand nur dort ein warmer Ofen. Nackt kuschelten sie sich unter Felle und Decken. Ihre Köpfe waren zusätzlich bedeckt – damit sich kein Ungeziefer in den Haaren verfing.

Bei Tisch erzählte man sich an langen Winterabenden von mutigen Helden, die Feuer speiende Drachen besiegen. Die echten Ritter aber kämpften vor allem gegen Läuse, Flöhe und Wanzen. Es heißt, im Frühmittelalter hätten sogar die Könige gestunken, da sie kaum jemals badeten. Das änderte sich mit den sogenannten Kreuzzügen. Tausende Krieger brachen zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert auf Befehl des Papstes in den Orient auf, um gegen die Muslime zu kämpfen. Ein fürchterliches Gemetzel. Aber auf dem Weg ins Heilige Land lernten die Kreuzritter die orientalische Badekultur kennen, und so kamen auch hierzulande Bäder und Dampfbäder in Mode. Im Alltag begnügte man sich aber weiterhin mit ein paar Spritzern kalten – im Winter eiskalten – Brunnenwassers.

Kein Wunder, dass die Burgbewohner sich auf das Frühjahr freuten! Dann taute der Boden auf, die Menschen pflückten die vitaminreichen Kräuter, nach Ostern fingen die Ritterturniere wieder an, und die Bauern arbeiteten auf den Feldern. Auf den Burgen wurden wieder Abgaben eingetrieben und es wurde Gericht gehalten. Das Leben kam wieder in Schwung – also auch die Fehden und Kriege. Es wurde von Neuem gekämpft und belagert und verteidigt. Wobei die Hitze des Sommers mitunter nicht weniger gefährlich war als die Winterkälte: Manch stolzer Rittersmann starb in der Schlacht unter seinem schweren Topfhelm – an einem Hitzschlag.

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