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Angst, Fragen, Zweifel

 

<[/caption] Überall auf der Welt haben Menschen Mitleid mit den Erdbebenopfern von Japan. Und die, die an Gott glauben, fragen sich: Warum verhindert er solches Unglück nicht?

Von Wolfgang Huber

Ein kleines Mädchen in rosafarbener Winterjacke trägt ein paar Habseligkeiten durch eine verwüstete Landschaft. Ein Schiff wird vor der Flutwelle hergetrieben; schließlich kippt es um wie eine Streichholzschachtel. Ein Japaner rettet sich auf das Dach seines Hauses und wird doch ins Meer hinausgerissen. Ein Hubschrauber überfliegt das Kernkraftwerk von Fukushima; fast hilflos sieht es aus, wie der Pilot über einem der Reaktoren Wasser abwirft. Niemand kann solche Bilder vergessen. Wir sehen sie jeden Tag.

Und wo ist Gott in all dem? Er ist bei dem kleinen Mädchen, bei den Schiffspassagieren, bei dem einsamen Mann auf dem Hausdach und bei dem Hubschrauberpiloten. Er ist auch bei einem alten Mann, der von lauter Trümmern umgeben ist. Inmitten dieser Trümmer seines bisherigen Lebens sagt der Mann: »Ich bete, dass es doch noch gut wird.«

Der alte Mann geht mir nicht aus dem Sinn: Er betet. Inmitten der Zerstörung hält er an der Hoffnung fest. Er erinnert mich an die Worte eines Psalms aus der Bibel: »Gott, hilf mir! Denn das Wasser geht mir bis an die Kehle. Ich versinke in tiefem Schlamm, wo kein Grund ist; ich bin in tiefe Wasser geraten, und die Flut will mich ersäufen. Gott, nach deiner großen Güte erhöre mich mit deiner treuen Hilfe.«

Wie ich den Alten am Fernsehschirm sprechen höre, spüre ich etwas von Gottes Nähe mitten in dem Chaos von Erdbeben, Tsunami und Atomgefahr. Ich spüre: Gott ist bei den Menschen in Not. Bei denen, die kein Dach mehr über dem Kopf haben. Weil Gott bei ihnen ist, können sie uns nicht gleichgültig sein. Dankbar sind wir für jeden Einzelnen, für den die Hilfe nicht zu spät kommt. Ebenso dankbar sind wir für jeden, der hilft.

Die Welt, in der wir leben, ist Gottes Schöpfung. Aber sie ist keine heile, immer glückliche Welt. Es gibt in ihr nicht nur den plätschernden Bach, sondern auch den reißenden Tsunami. Früher haben die Menschen sich die Erde als eine Scheibe vorgestellt; wir wissen heute, dass das eine beschränkte Sicht war. Heute denken wir uns die Erde als einen Globus, rund und gleichmäßig. Auch dieses Bild ist viel zu harmlos, zu einfach. Die Erde birgt nicht nur Rohstoffe wie Öl oder Kohle, die wir ausbeuten, so als ob wir mehrere Planeten zur Verfügung hätten. Sie birgt auch Lavamassen, die sich plötzlich in einem Vulkanausbruch Raum schaffen. Zu ihr gehören auch Erdplatten, die sich gegeneinander verschieben und ein gewaltiges Erdbeben auslösen können, so wie jetzt in Japan.

Die Erde, auf der wir leben, ist in ständiger Bewegung. Sie bietet Raum für Schönes, das wir bewundern, für Gutes, das sich entwickeln kann. Doch ihre Kräfte können auch zerstörerisch wirken. Beides gehört zusammen. In dieser Spannung ist die Welt geschaffen. Nicht nur Menschen üben Gewalt aus, streiten und kämpfen; auch die Natur kann gewaltsam sein. Es gibt nicht nur eine Geschichte der Kriege, die bis zu dem Krieg reicht, der gerade in Libyen herrscht. Es gibt auch eine Geschichte der Naturkatastrophen, die bis zum Erdbeben auf der japanischen Hauptinsel Honshu und dem anschließenden Tsunami reicht. Es kann sogar vorkommen, dass die Kräfte der Natur und menschliche Fehler zusammenwirken; dann wächst die Gefahr. In Japan hat sich eine Naturkatastrophe mit einer von Menschen verursachten Katastrophe verbunden.

Wenn so etwas geschieht, darf man sich nicht ausmalen, Gott säße an einem Schalter, um solche Vorgänge in Gang zu setzen oder abzuschalten. Er hat der Natur mit ihren Gesetzen ihr eigenes Recht eingeräumt; und er hat uns Menschen die Freiheit anvertraut. Mit den Gesetzen der Natur müssen wir rechnen – auch mit der Verschiebung von Erdplatten, mit Erdbeben und Tsunamis. Und durch unsere Freiheit dürfen die Gefahren nicht noch vergrößert werden. Gott ist auf der Seite der Opfer. Ihr Leiden müssen wir Menschen verhüten, soweit es irgend geht. Wenn dennoch Schlimmes geschieht, sind wir zur Hilfe herausgefordert.

Wo ist Gott? Von dem russischen Kosmonauten Jurij Gagarin wird erzählt, er sei von seiner Weltraumfahrt zurückgekommen und habe erklärt: Nun sei er auch im Himmel gewesen und habe Gott nicht gesehen. Damit wollte er sagen: »Wir vertrauen auf die Technik, nicht auf Gott. Unser eigenes Handeln bestimmt die Zukunft, nicht Gott.« Wenn wir auf Japan schauen, können wir es sehen: Keiner von uns hat die Zukunft in der Hand. Die modernste Technik macht die Zukunft nicht sicherer. Jeden Tag unseres Lebens empfangen wir als ein neues Geschenk. Dankbarkeit und Gottvertrauen sind eine Kraftquelle für unser Leben.

Wer das vergisst, steht in der Gefahr, sein Vertrauen ganz auf die Technik zu setzen. Allein die Technik soll eine gute Zukunft ermöglichen. Sie soll uns absolute Sicherheit geben. Doch das kann sie nicht. Diesem Irrtum dürfen wir deshalb nicht länger aufsitzen. Das haben die Kernreaktoren in Fukushima deutlich gezeigt. Der Einsatz von Atomenergie setzt absolute Sicherheit voraus. Doch eine solche Sicherheit gibt es nicht. Deshalb müssen wir uns selbst bemühen, die Risiken nicht zu hoch zu schrauben. Für unsere Zukunft und die unserer Mitmenschen. Denn bei ihnen wie bei uns ist Gott.

Wolfgang Huber
Eine Frau läuft mit ihrem Baby auf dem Rücken durch die Trümmer, die der Tsunami hinterlassen hat/ Foto: Roslan Rahman/ AFP

Unser Autor Wolfgang Huber ist Fachmann für den lieben Gott und Glauben. Der evangelische Theologe war bis November 2009 Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg und von November 2003 bis Oktober 2009 Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland. Jetzt schreibt er über Glaubensfragen und ist Theologie-Professor an der Berliner Humboldt-Universität und in Heidelberg. Außerdem hat er viele Ehrenämter und ist Mitglied im Deutschen Ethikrat. Er hält Vorträge über ethische, gesellschaftliche und religiöse Fragen.