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Revolution statt Mathe

 

Während der tunesischen Revolution blieben die Schulen leer/ Foto: Martin Bureau/ Getty Images

In vielen arabischen Ländern kämpfen Menschen seit Monaten für ihre Freiheit. Zuerst gingen die Tunesier auf die Straße. Selma und Yakoub haben es miterlebt

Von Felix Dachsel

Schulfrei außer der Reihe ist eigentlich eine feine Sache. Die Geschwister Yakoub und Selma, neun und sieben Jahre alt, erfuhren an einem Montagmorgen im Januar durch einen Telefonanruf, dass sie an diesem Tag nicht zum Unterricht zu kommen brauchten. Der Grund war allerdings sehr ungewöhnlich: nicht Hitzefrei oder ein kranker Lehrer – sondern Revolution!
Wenn eine Revolution stattfindet, heißt das, dass die Menschen die Machtverhältnisse verändern wollen, in denen sie bisher gelebt haben: Dafür gehen sie auf die Straße. Sie demonstrieren. Sie diskutieren. Sie schwenken Plakate. Sie kämpfen dafür, dass sie wählen dürfen. Oft verjagen sie ihre Regierung.

So war es auch in Tunesien, wo Yakoub und Selma leben. In dem Land in Nordafrika sind viele Menschen furchtbar arm. Viele haben keine Arbeit. Die Staatsmänner der Regierung dagegen lebten in Saus und Braus und unterdrückten die Bevölkerung. Das machte viele unzufrieden. Sie wollten einen anderen Präsidenten haben. Sie wollten ihre Meinung sagen dürfen, ohne von der Polizei verfolgt und eingesperrt zu werden. Ihren Nachbarn in den Ländern Algerien, Ägypten oder Libyen ging es ganz ähnlich: Auch dort gab es in den vergangenen Monaten Revolutionen.

Yakoub und Selma wohnen in Sousse, einer großen Stadt am Meer. Ihre Mutter kommt aus Deutschland, ihr Vater ist Tunesier. Anders als viele Menschen in Tunesien haben die Eltern Arbeit: Die Mutter der beiden Geschwister plant für Touristen Kameltouren durch die Wüste. Auch der Vater ist im Touristengeschäft tätig. »Die Wüste gefällt mir besonders gut«, sagt Selma. »In den Ferien bin ich auch schon auf Kamelen geritten und habe in Berberzelten geschlafen. Abends haben wir dann im Sand Feuer gemacht und Brot gebacken.« Die Kinder wissen, dass es ihnen besser geht als den meisten Tunesiern. »Ich finde es sehr traurig, dass es hier so viele arme Menschen gibt«, sagt Selma.

In Sousse war es zu Beginn der Revolution noch ziemlich ruhig auf den Straßen. Die Schule fiel zwar zehn Tage lang aus, aber man brauchte sich nicht zu Hause zu verstecken. »Am Anfang haben wir sogar noch Ausflüge gemacht«, sagt Selma: »Wir sind zum Beispiel zum Hafen gefahren und spazieren gegangen.«

Yakoub erzählt, dass sein Vater in diesen Tagen viel fernsah, Nachrichten auf Arabisch, er wollte wissen, was im Land passierte. Die Kinder durften nicht mitschauen, weil die Bilder im Fernsehen so schrecklich waren: Polizisten verprügelten Demonstranten und schossen sogar auf sie. Die Polizei wollte den Präsidenten beschützen. Doch die Menschen in Tunesien hatten endgültig genug von ihm. Sie demonstrierten weiter. Es gab Tote und Verletzte, zerstörte Polizeiwachen und Geschäfte.

»Es wurde immer gefährlicher«, sagt Selma. »Wir mussten den ganzen Tag drinnen bleiben. Opa hat uns aus Deutschland Rätsel geschickt, jeden Tag eins. Damit es uns nicht langweilig wird.« Yakoub sagt, er habe viel mit Lego gespielt: »Wir hatten schließlich Zeit. Es war wie Ferien. Aber eigentlich macht mir die Schule ja auch Spaß.« Selmas Freunde Amir und Heny sind mit ihrer Mutter nach Österreich geflogen. Dort war es sicher. »Jetzt gehen sie dort zur Schule und in den Kindergarten«, sagt Selma. »Im Sommer kommen sie zurück nach Tunesien.«

Nachts bewachten die Nachbarn von Yakoub und Selma die Häuser des Wohnviertels. Sie sperrten die Straßen mit Mülltonnen und Holzstapeln ab. Sie trugen Golfschläger und Rechen auf den Schultern, um sich zu verteidigen. »Die Nachbarn haben uns ein weißes Band gebracht. Wir sollten uns das um den Arm binden, wenn wir auf die Straße gehen«, erzählt Yakoub: »Das weiße Band war wie ein Ausweis.« Es war ein Zeichen dafür, dass die Kinder friedlich waren.

Während der tunesischen Revolution geriet vieles im Land in Unordnung, der Alltag veränderte sich. Zum Beispiel arbeitete die Polizei nicht wie sonst. Deshalb gründeten viele Tunesier sogenannte Bürgerwehren. Eine Bürgerwehr ist eine Gruppe von Menschen, die ihre Häuser selbst beschützen, statt sich auf die Polizei zu verlassen. »Mein Bruder Yakoub wollte auch unser Haus beschützen«, sagt Selma: »Er suchte sich einen Holzstock und wollte rausgehen. Mama hat ihn aber abgehalten.«

Nachts hallten Schüsse durch die Stadt. Bis zu ihrem Haus waren sie zu hören. Den Erwachsenen machte das Angst. Doch Selma und ihr Bruder Yakoub schliefen tief und fest. Ihre Eltern hatten die Fensterläden geschlossen und die Türen verriegelt. Nach einigen Tagen wurde es draußen wieder ruhiger. Der Präsident war zurückgetreten und aus Tunesien geflohen. Viele Menschen freuten sich darüber. Sie hofften, dass nun alles besser werden würde. Selmas Familie stieg ins Auto. Endlich durften sie wieder hinaus auf die Straße. Sie verriegelten die Autotüren und fuhren in die Stadt. Vieles sah anders aus.

»Der Supermarkt, in dem wir immer einkaufen, war zugemauert«, erzählt Selma. »Überall standen Soldaten herum. Einige Geschäfte waren geplündert, und die Polizeiwache in unserer Nähe war ausgebrannt.« Aber die Revolution war nun beendet. Tunesien hatte einen neuen Präsidenten.

Yakoub und Selma konnten wieder zum Unterricht gehen. »Als die Schule losging, habe ich das weiße Band in meinen Rucksack gesteckt. Ich habe es bei mir, bis jetzt«, sagt Yakoub. »Am ersten Tag sangen wir alle auf dem Schulhof die Nationalhymne. Dann schwiegen wir eine Minute lang, für die Toten«, erzählt Selma. »Die Lehrer fragten uns, ob wir in den Tagen davor Angst hatten. Ich hatte keine Angst.«