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Die ZEIT Edition „Kinderfilme aus aller Welt“ – Teil 10: Auf leisen Sohlen

 

Der Film spielt in den Straßen der Millionenstadt Teheran. Dabei sind die Kinder den Erwachsenen immer einen Schritt voraus/ © 1997 MIRAMAX, www.miramax.com

Zwei Geschwister in Teheran teilen sich ein Paar Schuhe und tun alles, damit das kein Erwachsener merkt

Eine kleine Unachtsamkeit, und schon hat Ali die Schuhe seiner Schwester Zarah verloren. Dabei hatte er sie gerade eben vom Schuster geholt. Denn die Schuhe waren alt, ihre Farbe war vom vielen Tragen schmutzig geworden, an den Seiten waren sie ausgetreten, ihre Nähte geplatzt. Eigentlich gehörten die Schuhe auf den Müll. Doch Zarah hatte keine anderen Schuhe. Ohne sie konnte sie nicht aus dem Haus, nicht einmal zur Schule. Als Ali endlich nach Hause kommt und Zarah ihn bedrängt, muss er ihr gestehen: Deine Schuhe sind weg! Verschwunden! Was sollen die beiden Kinder jetzt tun? Ihren Eltern Bescheid geben? Nein, das geht nicht. Die Eltern haben Sorgen genug. Sie sind arm. In den Läden müssen sie anschreiben lassen, und mit der Miete ihrer winzigen Einzimmerwohnung geraten sie dauernd in Rückstand. Der Vermieter droht der ganzen Familie, sie hinauszuwerfen. Zu allem Überfluss ist die Mutter auch noch krank. Vater Karim, ein rechtschaffener Mann, arbeitet zwar viel, aber der Lohn reicht hinten und vorne nicht.

Darum schweigen Ali und seine Schwester. Sie wollen ihre Eltern nicht weiter belasten. Sie wissen, dass für neue Schuhe kein Geld da ist. Sie treffen eine Vereinbarung. Sie teilen sich Alis ausgetretene, löchrige Turnschuhe. Zuerst läuft Zarah damit in die Schule, dann rennt sie zurück, um sie Ali zu geben, damit er in die Schule kann. Das Leben der beiden besteht nunmehr aus einem dauernden Laufen und Hetzen, aus Angst, zu spät in die Schule zu kommen, aus Sorge, dass ihr »Mangel« auffliegen könnte, aus Scham, sich keine neuen Schuhe leisten zu können. Ali und Zarah rennen und rennen, um ihr Leben in halbwegs normalen Bahnen zu halten.

Kinder des Himmels ist ein Film über die Fähigkeit zweier Geschwister, sich jenseits der Welt der Erwachsenen zu organisieren. Dort, hinter der Fassade der Normalität, sehen wir sie wie zwei geschäftige Mäuse durch die Gassen, Gänge und Straßen ihres Viertels mit Trippelschritten laufen. Man kann den Eindruck bekommen, es sei diesen Kindern zu verdanken, dass der Alltag, wie wir ihn kennen, überhaupt erst funktionieren kann. Sie sind die wahren Träger dieses Lebens, nicht die Erwachsenen, die eingebunden sind in ihre Pflichten wie in ein enges, die Fantasie tötendes Korsett. Ali und Zarah sehen weiter, denken weiter – instinktiv sind sie den Erwachsenen immer einen Schritt voraus. Auch weil sie ja ein Geheimnis bewahren müssen, nämlich dass sie zusammen nur über ein Paar Schuhe verfügen. Wenn man Ali und Zarah in ihrer so offenen wie gleichzeitig verborgenen Geschäftigkeit betrachtet, dann weiß man, dass die Heinzelmännchen nicht nur keine mitteleuropäische Erfindung sind, sondern überhaupt keine Erfindung.

»Du bist neun Jahre alt!«, sagt der Vater Karim zu Ali in einer Szene: »Du bist kein Kind mehr!« Karim erwartet von seinem Sohn, dass er mithilft, wo er kann. In einer armen iranischen Familie darf ein Kind nicht lange ein Kind sein. Es muss schnell erwachsen werden. Und Ali versucht es mit allen seinen Kräften und mithilfe seiner kleineren Schwester, die ihn in liebevoller, kluger Weise unterstützt. Aus den Bemühungen Alis, seinem Vater beizustehen, entsteht ein zartes, kleines Lebenskunstwerk, das zusammengehalten wird von den Fäden geschwisterlicher Liebe und Solidarität.

Wir befinden uns im Iran der neunziger Jahre, wohlgemerkt in der Islamischen Republik Iran. Seit mehr als 20 Jahren ist der Iran ein Gottesstaat. Darum ist es nur selbstverständlich, dass die Religion in dem Film auftaucht. Doch ihre Präsenz ist nicht erdrückend, sie ist rein atmosphärisch. Das ist eine Leistung des Films von Regisseur Madschid Madschidi, denn er zeigt damit, dass der Islam der Teil der iranischen Kultur ist, in der sich Ali und Zarah mit großer Selbstverständlichkeit bewegen – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und Kultur kann man einatmen, ohne dass einem davon schlecht wird.

Kinder des Himmels führt uns aber auch in die Millionenstadt Teheran, die wie alle Megalopolen gezeichnet ist von krassen sozialen Unterschieden. Karim nimmt seinen Sohn Ali in den Norden der Stadt mit, wohin er mit dem Fahrrad aufbricht, um Arbeit zu finden und sein Einkommen aufzubessern. An diesem ermüdenden Tag entdeckt der Vater einen gewitzten Sohn, der gleichzeitig sehr erwachsen und sehr kindlich sein kann. Aus dieser »Begegnung« der beiden in einer ungewohnten Umgebung, entsteht eine Vater-Sohn-Geschichte, die alle Stürme des Lebens überstehen wird – auch das schreckliche Pech, das den beiden widerfährt.

Ali scheitert am Ende. Es gelingt ihm nicht, Zarah neue Schuhe zu besorgen, so wie er es ihr mit all der Tapferkeit eines neunjährigen Jungen versprochen hatte. Doch als er in der letzten Szene des Films seine wunden Füße in einen runden Teich taucht, als die Kamera ihn von oben aufnimmt, einen kleinen Menschen an einem glitzernden Teich, der von Goldfischen bevölkert wird, da spricht diese Symbolik eine klare Sprache. Das unbändige Leben ist diesem Jungen nicht auszutreiben, Seine Niederlage erscheint plötzlich unerheblich. Wichtig ist allein Alis Bemühen, seine Beharrlichkeit, seine Aufrichtigkeit.

Jetzt kann er die wund gescheuerten Füße endlich ruhen lassen. KinderZEIT empfiehlt diesen Film ab 6 Jahren.

Die ZEIT Edition „Kinderfilme aus aller Welt“ umfasst zehn preisgekrönte Spielfilme, die zeigen, wie Kinder in verschiedenen Ländern leben, wovon sie träumen, wofür sie kämpfen. Für Mädchen und Jungen von 6 bis 12 Jahren. Alle Filmen zusammen kosten 89,95 Euro und können hier bestellt werden. Der Reinerlös geht an das Kinderhilfswerk terre des hommes.

1. Whale Rider
2. Tsatsiki – Tintenfisch und erste Küsse
3. Wintertochter
4. Ein Pferd für Winky
5. Die Stimme des Adlers
6. Billy Elliot – I will dance
7. Zaïna – Königin der Pferde
8. Soul Boy
9. Lippels Traum
10. Kinder des Himmels