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Wurm im Ohr

 

Der Ohrwurm ist wie ein wildes Tier: Er versteckt sich irgendwo in unserem Kopf/ © Mauritius
Der Ohrwurm ist wie ein wildes Tier: Er versteckt sich irgendwo in unserem Kopf/ © Mauritius

Manchmal hören wir plötzlich Lieder im Kopf, die nicht mehr verschwinden wollen. Wo kommen die her? Und wie kann man sie loswerden?

Von Christoph Drösser

Der britische Bergsteiger Joe Simpson hatte 1985 einen schlimmen Unfall: Er brach sich ein Bein und stürzte in eine Gletscherspalte. Ganz alleine. Mit viel Glück konnte er sich befreien, aber er verbrachte drei Tage ohne Essen und Trinken. Und was war das Schlimmste in dieser Zeit? Dass ihm stundenlang ein Lied von einer damals sehr berühmten Popgruppe nicht aus dem Kopf ging: Brown Girl In The Ring von Boney M. Ein Lied, das er überhaupt nicht mochte, aber er wurde es nicht los. Simpson wollte auf keinen Fall zu diesem Song sterben, sagte er nach seiner Rettung.

Ein typischer Fall von einem Ohrwurm: ein Lied, das in unserem Kopf spielt, immer und immer wieder, in einer endlosen Schleife. Ob Gangnam Style von Psy oder Someone Like You von Adele: Es kann einer unserer Lieblingssongs sein, aber auch ein Lied, das wir regelrecht hassen. Mal ist es ein aktueller Hit, mal ein Lied aus unserer frühen Kindheit. Ohrwürmer können einen das ganze Leben lang verfolgen – jahrelang verhalten sie sich still, aber plötzlich sind sie wieder da und nisten sich in unserem Gehörgang ein.

Wo kommt der Ohrwurm her? Wieso ist er so hartnäckig? Gibt es bestimmte Melodien, die dabei besonders gut funktionieren? Kann man vielleicht sogar Ohrwürmer gezielt komponieren?

Diese Fragen zu beantworten ist nicht leicht, weil Ohrwürmer schwer zu erforschen sind. Wie scheue wilde Tiere lassen sie sich nicht auf Kommando aus ihrem Versteck hervorlocken. Wenn man also Menschen in ein Labor einlädt, um ihre Ohrwürmer zu untersuchen, passiert vielleicht überhaupt nichts – und kaum kommen sie nach Hause, fängt die innere Schallplatte wieder an zu dudeln.

Trotzdem haben es Forscher geschafft, ein paar Dinge über Ohrwürmer herauszufinden. Der deutsche Wissenschaftler Jan Hemming von der Universität Kassel zum Beispiel hat Menschen eine CD mit 20 Liedern mit nach Hause gegeben und sie gebeten, die Musik darauf möglichst oft zu hören. Da waren Popsongs drauf, aber auch klassische Stücke. Und dann sollten die Leute sagen, ob ihnen manche Lieder davon auch durch den Kopf gingen, ohne dass die CD spielte. Dabei kam heraus, dass ein Ohrwurm meist kein komplettes Lied ist, sondern ein besonders eingängiger Teil davon, nicht länger als eine halbe Minute. In der Melodie und im Text gab es viele Wiederholungen. Und insgesamt waren einfache Melodien ohrwurmgeeigneter als komplizierte.

Die Gruppe Wise Guys hat nach diesem Rezept mal ein Lied mit dem Titel Ohrwurm komponiert, das in einem wissenschaftlichen Test prompt am besten als Ohrwurm funktionierte. Amerikanische Forscher haben im vergangenen Jahr ihren Versuchspersonen aktuelle Hits vorgespielt – am besten blieben die von Lady Gaga im Gedächtnis kleben.

Letztlich aber hat jeder Mensch seine eigenen Ohrwürmer. Nicht jeder kennt dieselben Lieder, und besonders gut im Gedächtnis bleiben die Melodien, die mit Erlebnissen verbunden sind, die für uns eine persönliche Bedeutung haben.

Ziemlich genau kann man beschreiben, wann Ohrwürmer auftauchen. Warum zum Beispiel ist dem Bergsteiger in seiner gefährlichen Situation der alte Hit aus dem Jahr 1978 durch den Kopf gegangen? Es lag wahrscheinlich daran, dass er ganz alleine war und sein Gehirn nicht viel zu tun hatte. In solchen Situationen können unsere Gedanken ziellos umherwandern, aber auch der Ohrwurm wittert seine Chance, in unser Bewusstsein zu dringen. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn wir unter der Dusche stehen, wenn wir eine lange Zugfahrt machen, wenn wir joggen – vielleicht aber auch im Unterricht kurz vor Schulschluss, wenn unsere Aufmerksamkeit nachlässt und wir dem Lehrer gar nicht mehr zuhören. Wir sind entspannt, unser Gehirn ist ein bisschen unterfordert, es führt vielleicht Selbstgespräche, oder es kramt eben auf der Suche nach Unterhaltung im Gedächtnis nach Musik.

Ein Ohrwurm kann sehr hartnäckig sein und einen den ganzen Tag lang verfolgen. Gibt es denn kein Mittel, ihn wieder loszuwerden? Doch, sagen die Forscher. Man muss einfach dem Gehirn wieder etwas zu tun geben, dann sagt es dem Ohrwurm gewissermaßen, dass er mal die Klappe halten soll. Am besten geeignet sind Aufgaben, die schwer genug sind, um einen wirklich ganz in Anspruch zu nehmen, aber nicht so schwer, dass sie uns unter totalen Stress setzen. Mittelschwere Denksportaufgaben funktionieren da gut, also zum Beispiel ein Sudoku, das nicht zu leicht und nicht zu kompliziert ist. Wenn man sich da so richtig hineinvertieft, wird’s plötzlich still im Kopf.

Ein anderes Anti-Ohrwurm-Mittel: eine Melodie mit einer anderen bekämpfen. Wenn uns also die Endlosschleife von Beyoncés Single Ladies zum Wahnsinn treibt, fangen wir am besten innerlich an, ein anderes Lied zu singen. Vielleicht was Klassisches, zum Beispiel Beethovens fünfte Sinfonie: Ta-ta-ta taaaa! Zwei Melodien gleichzeitig, damit ist unser Gehirn überfordert.

Das Problem dabei ist nur: Wenn das »Gegenmittel« zu Ende ist, dann hat der Ohrwurm wieder eine Chance. In dem schon erwähnten Lied der Wise Guys heißt es: »Die fünfte Sinfonie verklingt mit viel ›Tata!‹ – mein Ohrwurm sagt: ›Hallo, ich bin noch da!‹«