Als es noch keine Zeitungen und Handys gab, verkündeten Stadtschreier die Nachrichten. Tony Appleton macht das bis heute
Von John F. Jungclaussen
Hört her, hört her!«, schreit Tony Appleton und läutet mit seiner Glocke. »Ich bin nicht der Weihnachtsmann, aber ich möchte Euch eine Geschichte erzählen.« Jetzt in der Adventszeit wird Tony Appleton häufig in Fußgängerzonen und Einkaufszentren der englischen Grafschaft Essex stehen. Er wird seine schöne Uniform tragen – scharlachroter Mantel und dreieckiger Hut – und die Menschen mit Weihnachtsmärchen unterhalten. Denn Tony Appleton hat ein ganz besonderes Hobby: Er ist Stadtschreier.
Stadtschreier, die gibt es eigentlich gar nicht mehr. Sie stammen aus einer Zeit ohne Facebook und E-Mails, ohne Telefon, sogar ohne Zeitung. Für uns ist das heute unvorstellbar: Wie soll man da wissen, was in der Welt so vor sich geht und wie es Freunden geht, die weiter weg leben? Vor tausend Jahren begannen Männer deshalb von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf zu reisen, um den Menschen die wichtigsten Neuigkeiten aus dem ganzen Land mitzuteilen. England wurde damals von Königen regiert, und wenn die etwas Wichtiges beschlossen hatten, schickten sie die Stadtschreier los, um die Nachrichten zu verbreiten. »Wenn man so will, war ein Stadtschreier eine sprechende Zeitung oder eine Nachrichtensendung auf zwei Beinen«, sagt Tony Appleton.
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Zwar erschien der Stadtschreier nicht jedes Mal pünktlich zur selben Stunde, aber wenn er kam, war er für jeden sofort zu erkennen, denn er trug immer eine besondere Uniform. Wenn Tony Appleton seinem Brüll-Hobby nachgeht, verkleidet er sich wie ein englischer Stadtschreier vor 400 Jahren: Tony zieht weiße Kniestrümpfe an und eine pludrige schwarze Kniebundhose, die wahnsinnig bequem aussieht. Zu dem weißen Hemd, das er trägt, gehört eine Schleife, die mit Nadel und Faden kompliziert bestickt ist und einer riesigen Serviette gleicht. Darüber kommt dann der üppige rote Mantel und schließlich ein dreieckiger Hut, der mit buschigen bunten Federn verziert ist. Es sei gar nicht einfach gewesen, einen Schneider zu finden, der dieses alte Kostüm nachmachen konnte, erzählt Tony Appleton.
Der Mann ist 77 Jahre alt, und seit 25 Jahren läuft er in seiner Freizeit als Stadtschreier umher. Es gibt in England noch etwa 200 von seiner Sorte, aber Appleton ist im Moment der bekannteste von ihnen. Das hängt mit der Geburt des Prinzen George zusammen. Am liebsten zieht Appleton nämlich los, wenn es Nachrichten aus dem englischen Königshaus gibt. Anders als in Deutschland, wo Könige vor knapp hundert Jahren abgeschafft wurden und ein gewählter Präsident an der Spitze des Landes steht, haben die Briten noch heute eine Königin. Sie heißt Queen Elizabeth II. Ihre Vorfahren sitzen schon seit 1000 Jahren auf dem englischen Thron. In diesem Juli wurde ihr erster Urenkel geboren, und weil viele Menschen in England das Leben der königlichen Familie interessiert, versammelten sie sich vor dem Krankenhaus in London. Sie wollten dort den neuen Prinzen willkommen heißen, der eines Tages auf dem Thron seiner Urgroßmutter sitzen wird.
Für Tony Appleton war das ein ganz besonderer Tag. In seiner Uniform und mit einer großen glänzenden Glocke in der Hand stand er vor dem Krankenhaus und schrie: »Ja oh, ja oh. Ich verbreite die Kunde, dass wir Prinz Georg Alexander Louis von Cambridge willkommen heißen. An diesem Tag, dem 22. Juli des Jahres 2013, ist er geboren, unser zukünftiger König, Erstgeborener Seiner königlichen Hoheiten, des Herzogs und der Herzogin von Cambridge.«
Tony Appleton benutzt als Stadtschreier eine ganz altmodische Sprache, die viel verschnörkelter klingt als das normale Englisch, das er sonst spricht. Er macht das mit Absicht – schließlich hat er auch Kleidung an, wie man sie vor 400 Jahren trug. Da kann man schon mal altmodisch reden. Die Fernsehteams, die am Geburtstag des Prinzen ebenfalls vor dem Krankenhaus warteten, fielen jedenfalls darauf herein. Sie glaubten, dass Appleton von der Königin geschickt worden war, und nahmen sein Gebrüll mit ihren Kameras auf.
Doch Appleton ist von niemandem beauftragt. Er erzählt einfach gerne Geschichten, etwa aus dem langen Leben seiner Königin. »Eine Königin hat doch irgendwie etwas Märchenhaftes«, sagt er. »Und durch das Kostüm und die altmodische Sprache werden diese Geschichten zum Leben erweckt. Die Menschen machen mit mir eine kleine Reise in die Vergangenheit.«