Die Olympischen Sommerspiele in London haben begonnen. Was bedeutet das für die Stadt?
Von John F. Jungclaussen
Die Zahlen, mit denen man die Olympischen Spiele in London, der Hauptstadt von Großbritannien, beschreibt, haben so viele Nullen, dass man sie sich schwer vorstellen kann: 17000 Sportler treten von diesem Freitag an zwei Wochen lang in allen möglichen Sportarten gegeneinander an. Das sind so viele Menschen, wie in einer Kleinstadt wohnen. Zusätzlich reisen Trainer, Ärzte, Journalisten und Zuschauer nach London – mehr als 500000 Menschen. Und weitere 200000 Menschen werden jeden Tag für die Spiele im Einsatz sein, sie kontrollieren Eintrittskarten, messen Zeiten und pflegen Sportplätze. Wie hat sich die Stadt bloß auf diesen Wahnsinn vorbereitet?
Die Olympischen Spiele finden alle vier Jahre statt. Schon im Sommer 2005, also vor sieben Jahren, wussten die Planer in London, dass sie dieses Jahr dran sein würden. Im Sommer 2008 haben sie sich den Stadtteil Stratford im Osten der Stadt als Austragungsort ausgesucht, ein ehemaliges Industrieviertel. Dort lebt der elfjährige Mohammed Hewitt mit seinen Eltern und seinen beiden Brüdern. »Früher war unser Stadtteil echt runtergekommen«, sagt er. »Da standen viele alte und vergammelte Fabrikgebäude rum, die Straßen waren schmutzig, und es gab keine Spielplätze und keinen Park.«
Heute sieht es in Stratford ganz anders aus. Es gibt jetzt ein Stadion, das größer ist als die meisten Fußballarenen, 80000 Menschen passen hinein. Eine Fahrradrennbahn wurde gebaut und eine verrückte Schwimmhalle. Um die Sportanlagen herum wurde ein Park angelegt, der ungefähr so groß ist wie 200 Fußballfelder. Für die Athleten gibt es 3600 nagelneue Wohnungen mit 17000 Betten. Und um sie alle mit Essen zu versorgen, müssen zum Beispiel 24000 Brote und 232000 Kilogramm Kartoffeln hierhin gekarrt werden. Neue Sportstätten zu bauen und Gastgeber für Tausende Menschen zu sein – das alles ist teuer: 11,5 Milliarden Euro kostet das Sport-Spektakel. Das meiste davon bezahlen die Bürger Großbritanniens mit ihren Steuern.
Mohammed findet, dass sich die Kosten und der ganze Aufwand lohnen. »Die Lea, der kleine Fluss, der durch Stratford fließt, hat früher eklig gestunken«, erinnert er sich. »Jetzt schwimmen viele Fische drin, und drum herum ist alles ganz grün geworden.« Um den Olympischen Park anzulegen, wurden mehr als 2000 Bäume und rund 120000 Sträucher und Büsche gepflanzt. »Es ist toll, dass wir in Stratford auf einmal Vogelstimmen hören!«, freut sich Mohammed. Ein Freund aus der Schule hat ihm erzählt, er habe abends sogar Fledermäuse gesehen.
Wirklich in den Park dürfen die Bewohner aber erst, wenn die Spiele wieder vorbei sind. Denn für die kommenden zwei Wochen ist die ganze Anlage abgesperrt. Wer hineinwill, braucht eine Eintrittskarte und wird kontrolliert. So will die Polizei dafür sorgen, dass die Sportler und die Besucher sich sicher fühlen. Erst nach den Olympischen Spielen können Mohammed und seine Freunde dann in die Schwimmhalle gehen oder mit ihren Eltern ein Picknick im Park machen.
Doch auch wenn sie nicht als Zuschauer zu den Wettkämpfen gehen, werden die Bewohner Londons etwas von den Spielen mitbekommen. Für die 26 verschiedenen Sportarten, in denen die Athleten gegeneinander antreten, reicht die Fläche in Stratford nicht aus. Olympia wird sich in der ganzen Stadt ausbreiten. Nahe dem Buckingham-Palast zum Beispiel, in dem Königin Elisabeth II. lebt, wurde Sand ausgestreut, auf dem Beachvolleyball gespielt wird. Mohammeds Mutter will sich das unbedingt anschauen. »Vor einem Jahr war ich da, als Prinz William und Kate Middleton geheiratet haben und sich auf dem Balkon den Hochzeitskuss gaben«, sagt sie. »Und jetzt, jetzt haben wir hier einen Strand, mitten in der Stadt. Das ist doch irre!« Noch weiter weg, in der berühmten Anlage von Wimbledon, wird der Tenniswettkampf ausgetragen. Die Fußballmannschaften spielen im Stadion in Wembley. Die Reitturniere finden südlich vom Themse-Ufer in Greenwich statt.
Mit anderen Worten, wer in London ist, kann den Spielen nicht aus dem Weg gehen. Und das finden längst nicht alle toll. Die U-Bahn ist schon zu normalen Zeiten vollgestopft, jetzt werden noch mehr Leute mit ihr fahren. Menschen, die eigentlich im Stadtzentrum arbeiten, wurden darum aufgefordert, das in den kommenden zwei Wochen möglichst von zu Hause aus zu tun. In der ganzen Innenstadt wurde außerdem eine Fahrbahn der Straßen für den »Olympiaverkehr« gesperrt, damit die Sportler von ihren Unterkünften in Stratford pünktlich zu den Wettkampfstätten kommen. Für den Taxifahrer Matthew Almond ist das ärgerlich, denn jetzt werden sich Autos, Busse und Radfahrer auf nur einer Spur drängen. »Es wird schwierig für mich, so Geld zu verdienen, weil ich wahrscheinlich die ganze Zeit im Stau stecke«, sagt er.
Gut findet Matthew Almond aber, dass zwei Wochen nach den Spielen auch noch die Paralympics stattfinden, die Wettkämpfe für Sportler, die eine Behinderung haben. »Meine Tochter Lucy ist blind«, erzählt der Taxifahrer. »Für viele Menschen ist es schwierig, jemanden wie Lucy als ganz normales Mädchen zu sehen. Sie erlebt die Welt einfach anders, erfühlt und hört sie, statt sie zu sehen.« Bei den Paralympics ist es egal, ob jemand blind oder taub ist, im Rollstuhl sitzt oder nur einen Arm hat. »Wer zum Beispiel einen Nachbarn hat, der behindert ist, der wird durch die Wettkämpfe sehr viel darüber lernen, was man trotzdem alles erreichen kann«, glaubt Almond.
Der elfjährige Mohammed aus Stratford wohnt nicht nur an dem Ort, an dem all das stattfinden wird, er darf sogar ganz besonders nah ran, wenn es losgeht: Bei der Eröffnungsfeier wird er zusammen mit 10000 anderen Kindern dabei sein. Was er genau tun wird, darf er noch nicht sagen. »Es soll eine Überraschung sein.« Auf der ganzen Welt werden Menschen den Fernseher einschalten und zuschauen. »Auf jeden Fall wird es ziemlich bombastisch«, sagt Mohammed. Und dann verrät er doch noch etwas – dass er hart gearbeitet hat, um tanzen zu lernen, und dass er sich am meisten auf das Feuerwerk freut.