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Schnupperstunde

 

© Julian Röder/Ostkreuz
© Julian Röder/Ostkreuz

Die Duftforscherin Sissel Tolaas gibt Nachhilfe im Riechen. Zum Beispiel einer Berliner Schulklasse
Von Ulrike Linzer

Wie andere Leute Vokabeln lernen oder Schulanfänger das Alphabet, trainiert Sissel Tolaas jeden Tag das Riechen. Wenn die Frau durch die Stadt geht, bleibt sie oft stehen und schnuppert an Bäumen, Mauern und allen möglichen Waren im Supermarkt. Sissel Tolaas ist Riech-Profi, sie arbeitet vor allem mit ihrer Nase. Die Norwegerin erforscht Gerüche und stellt Duftstoffe her, die zum Beispiel für Parfüms benutzt werden.In ihrem Labor in Berlin hat sie dafür etwa 2000 braune Fläschchen, die flüssige Duftgrundstoffe enthalten. Dazu kommen etwa 7000 kleine Dosen, in denen sie Geruchsandenken aus der ganzen Welt aufbewahrt – von Kamelmist aus Ägypten bis zu verfaultem Obst aus Indonesien. Alles luftdicht verpackt. Wenn Sissel Tolaas einen Duft aus der Natur nachbauen will, saugt sie zunächst die Ausdünstung zum Beispiel einer Blüte oder einer Frucht ab und fängt die kleinen Duftteilchen in einer Glasglocke auf. Dann erforscht sie die Zusammensetzung und baut den Geruch aus Chemikalien nach.
Dieses Verfahren (zum Angeben: Head­space­tech­nik) erklärt Sissel Tolaas heute 20 Kindern einer Berliner Schule. Die Sechstklässler sind zu Besuch im Labor der Duftfachfrau und bekommen Unterricht im Fach »Nase«. Ein paarmal hat Sissel Tolaas schon mit ihrer Tochter Tara und deren Klassenkameraden Riech­trai­nings gemacht. Doch diesmal findet es während der Schulzeit statt, eine Lehrerin sitzt mit im Raum.
»Riechen ist ein ganz wichtiger Sinn, aber wir vernachlässigen ihn«, sagt Sissel Tolaas. Die Nase kann ein paar Tausend verschiedene Gerüche unterscheiden. Sie warnt uns zum Beispiel vor Gefahren: Wir riechen, wenn Lebensmittel gammelig sind oder wenn es brennt. »Auch beim Schmecken ist das Riechen wichtig«, sagt Sissel Tolaas. Mit Gaumen und Zunge erkennen wir vor allem einfache Geschmacksrichtungen wie bitter, süß, salzig und sauer. Die feinen Aromen entstehen erst mithilfe des Geruchs. »Wenn wir keine Riechzellen hätten, würde eine Banane vielleicht wie eine Kartoffel schmecken«, sagt Tolaas.

© Julian Röder/Ostkreuz
© Julian Röder/Ostkreuz

Im Riechtraining sollen die Kinder Düfte aus dem Alltag erschnuppern. »Jetzt bitte die Nasen auf«, sagt Sissel Tolaas. Sie verteilt an alle Schüler fünf Papierstreifen, auf die sie verschiedene Düfte gesprüht hat. Vor jedem Schüler liegen ein Zettel und ein Stift. Sie sollen alles aufschreiben, was ihnen zu dem Geruch einfällt. Die Kinder schnuppern und notieren: »Putzmittel«, »Zitroneneis«, »Mandarinenkeks«, »Orangenschale«, »weiße Gummibärchen«. Auf den Zetteln stehen ganz unterschiedliche Dinge zu einem Duft, doch Sissel Tolaas ist zufrieden. »Gar nicht schlecht«, sagt sie, »es waren alles Zitrusdüfte.«
Ein Junge sagt: »Das riecht wie mein Papi.« Das Besondere am Riechen ist nämlich auch, dass Menschen Düfte mit Gefühlen und Erinnerungen verbinden. »Der erste Eindruck, den man hat, wenn man etwas riecht, bleibt ganz lange erhalten«, sagt Sissel Tolaas. Das liegt daran, dass Gerüche Signale in die Teile des Gehirns senden, in denen Erinnerungen und Gefühle gespeichert werden.

Gerüche können auch unser Handeln beeinflussen. In manchen Supermärkten wird zum Beispiel neben dem Tiefkühlregal Pizzaduft versprüht, damit die Leute Appetit bekommen und mehr kaufen. Die Duftforscherin erklärt den Schülern, dass wir oft von künstlich hergestellten Gerüchen umgeben sind.

© Julian Röder/Ostkreuz
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Für die Schnupperklasse gibt es heute aber nicht nur angenehme Düfte. Nach Holz- und Essensgerüchen kommt die »Ekel-Runde«: Was riecht man in der Stadt. Die Schüler schnuppern an den Duftstreifen, viele rümpfen die Nase, einige rufen »Iih«, »Bäh« und »Pfui«. Auf die Zettel schreiben sie: »Schweiß«, »Katzenpipi«, »Hundehaufen«, »Furz«, »Biomüll«. Sissel Tolaas möchte, dass die Kinder zu beschreiben versuchen, was sie an den Gerüchen so eklig finden. Und sie sollen noch einmal riechen. Beim zweiten oder dritten Anlauf finden viele den Geruch schon weniger schlimm.

Es sei wichtig, dass man lernt, manchmal auch unangenehme Gerüche zu akzeptieren, sagt Sissel Tolaas. In einigen Ländern gibt es zum Beispiel eine andere Riechkultur. In China etwa seien vergammelte Eier eine Delikatesse, deshalb nähmen die Chinesen den Geruch nicht als schlecht wahr. »Das Riechtraining kann also auch das Verständnis unter den Menschen fördern«, sagt Sissel Tolaas. Kinder seien viel offener für neue, merkwürdige Gerüche als die meisten Erwachsenen. Doch auch die lassen sich manchmal täuschen. Einmal hat Sissel Tolaas ein Parfüm an einen Sammler verkauft. »Es gefiel ihm, bis er erfuhr, dass ich Hundekot-Teilchen reingemischt hatte«, sagt sie.
Am liebsten würde Sissel Tolaas das Fach »Nase« verpflichtend an Schulen einführen. Man kann aber auch allein trainieren. Und so gibt sie den Schülern zum Ende der Schnupperstunde noch Tipps, wie die Kinder das Riechen weiter üben können: beim Kochen Zutaten erschnuppern, mit Freunden über Düfte reden und immer der Nase nach: »Geht schnuppernd durch die Nachbarschaft, so wie es Hunde machen.«